Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
ihn zum ersten Mal.
    „In achtzig Tagen um die Welt“, knurrte er. „Achtzig Tage.“
    „Können wir es schaffen, Kapitän?“
    „Achtzig Tage … sind keine Zeit.“
    Mit diesen kryptischen Worten wandte er sich ab und schrie weitere seiner holländischen Befehle. Es war, als brülle er sie in den Wind, und der Wind trage sie weiter an die Ohren der Crew.

2
    Sir Darren ergab sich in die Reise wie in einen Opiumtraum.
    Die Ruhelosigkeit der Crew hatte auf ihn abgefärbt, und die meiste Zeit über verbrachte er damit, aufs Meer hinaus zu starren. Selbstverständlich gab es Kabinen im Bauch des Schiffes, und natürlich hatte er sie aufgesucht, doch er hielt es nicht lange dort aus. Es waren schimmlige, stinkende Kammern, dunkel und alt, ohne Luken und Bullaugen, wie Grüfte, in die viele Jahrhunderte lang kein frischer Sauerstoff geflossen war. Unter Deck kam er sich vor wie bei lebendigem Leibe begraben, und obwohl dies zweifellos eine passende Umschreibung für das Schicksal war, das er durchlebte, wurde ihm jede Sekunde, die er dort unten verbrachte, zur Qual. Er versuchte, das Schreibzeug zu nutzen, das man ihm im Club gegeben hatte, doch er vermochte sich nicht auf die Buchstaben zu konzentrieren, und es trieb ihn nach oben. Er musste an die drei Geister im Club denken. Einer hatte die Zeitung gelesen, der zweite eine Karte studiert, der dritte in das Kaminfeuer gestarrt. Er hatte sich über den letzteren lustig gemacht – zumindest, solange er ihn noch für einen lebendigen Menschen hielt. Jetzt fühlte er selbst sich am wohlsten, wenn er aufs Meer hinaus blicken konnte, tagelang, nächtelang. War das nicht dasselbe wie die Flammen zu studieren? Wer vermochte schon zu sagen, ob der Mann mit der Zeitung diese tatsächlich gelesen hatte? Vielleicht sah er nur auf die Buchstaben, um sich zu zerstreuen.
    Gehörte dieses Gefühl der Ruhelosigkeit zum Geistsein dazu? Er wusste vieles und doch so wenig. Das war nur natürlich. Kein Biologe, wie viel Wissen er auch anhäufte, vermochte sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, ein Tier oder eine Pflanze zu sein …
    Am dritten Tag ereignete sich etwas.
    „Ein Schiff!“ So wenig Holländisch er auch verstand, diesen Ruf aus dem Mund eines der Seeleute fing er auf. Es folgte eine Positionsangabe, die er nicht in seine Sprache übersetzen konnte.
    Der Kapitän kam ganz in Sir Darrens Nähe an die Reling und zog ein sperriges Fernrohr aus der Tasche, das offenbar einmal eine Teleskopfunktion gehabt hatte, ehe es in ausgefahrenem Zustand festgerostet war. Dabei zeigte er eine gewisse Eile, die untypisch für ihn war. Als Fokke das Gerät an die Augen setzte, schien es von innen heraus zu glühen, und an seinem Ende waberte eine flirrende Aura.
    Der Mann, den man den fliegenden Holländer nannte, gab einige Befehle in seiner Muttersprache. Sir Darren fiel auf, dass die Bewegungen der Männer ungewöhnlich hastig wurden. Drei, vier der Gespenstermatrosen kletterten sogar weit in die Takelage hinauf, bis zu den Bramsegeln. Auch das Schiff regte sich, und auf den ersten Blick schien nur das zu geschehen, was jeden Tag und jede Nacht geschah – erst beim genauen Hinsehen erkannte der Passagier Widersprüche.
    Hatten Schiff und Besatzung bisher zusammengearbeitet, schienen ihre Bemühungen nun in einer Art Wettstreit zu stehen. Wo die Crew Segel setzte, zog das Schiff sie wieder ein. Wenn der Steuermann das Ruder nach backbord drehte, lief es knarrend wieder nach steuerbord zurück, sobald er es losließ. Selbst der Wind schien nicht mehr auf der Seite der Geistercrew zu stehen. Er wechselte häufig die Richtung, schien die Versuche der Besatzung, den Kurs zu korrigieren, zunichte zu machen. Nicht einmal die Befehle des Kapitäns trug er mehr. Er riss dem bärtigen Mann die Rufe von den Lippen, stahl sie ihm förmlich aus dem Mund. Die Kommunikation zerbrach.
    Sir Darren lief zu dem Kapitän hinüber, und eines der Rundhölzer wischte dicht über seinen Kopf hinweg. Er hatte den Luftzug spüren können und wäre beinahe davon getroffen worden. Der Brite sah sich um, doch niemand von der Crew war dafür verantwortlich zu machen. Es mochte verrückt klingen, aber das Schiff schien nach ihm geschlagen zu haben. Und nicht nur nach ihm. Einer der Matrosen wurde wenige Augenblicke später von einem Mast geworfen und schmetterte achtern hörbar auf die Planken. Für einen Moment lag ein Geräusch wie das Brechen von Knochen in der Luft, und der Kehle des Verunglückten entrang

Weitere Kostenlose Bücher