80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
Fluch, der auf der Libera Nos lag, erschöpfte sich nicht darin, dass diese armen Geschöpfe nicht sterben konnten und auf alle Ewigkeit die Meere bereisen mussten. Er nahm ihnen nahezu alles, was menschlich war, ließ sie zu einsamen, ruhelosen Schatten werden.
Ich werde sein wie sie, dachte der Dozent bei sich. Wenn ich diese Reise nicht in 80 Tagen beenden kann – und ich werde sie in dieser Zeit nicht beenden –, werde ich einer von ihnen sein. Falls ich die Wahl haben sollte, werde ich es vorziehen, mir die Zeit im British Reformers Club bis ans Ende aller Ewigkeit mit Zeitungslektüre und Whistspielen zu vertreiben als als tumber Seemann tagein tagaus mit den gleichen müden Bewegungen über das Deck zu schlurfen.
Die Dunkelheit stieg aus dem Meer auf und hüllte das Schiff ein. Wenn er über die Reling blickte, glaubte er in der Ferne schwache Lichter zu sehen. Vielleicht gehörten sie schon zur englischen Küste. Wandte er sich um, war überall an Bord das Glosen dieser niemals blinzelnden Augen, deren Fluch es war, von einer Energie erfüllt zu sein, zu schwach, um lebende Menschen aus ihnen zu machen, und zu stark, um sie in Frieden sterben zu lassen. Der Anblick war nur kurze Zeit zu ertragen, dann musste man sich abwenden.
Der Wind füllte die Segel, und er hatte das Gefühl, dass sie gut vorwärts kamen. Aber sie flogen nicht. Sie glitten mit Leichtigkeit über das Wasser, da sie den Wind auf ihrer Seite hatten, ja, aber die Libera Nos war und blieb ein Schiff, und selbst wenn sie doppelt so schnell segeln konnte wie jedes andere Segelschiff, würde es nicht reichen, um die Wette zu gewinnen.
Auch der Kapitän war die ganze Zeit über an Deck. Sir Darren begegnete ihm ständig, wohin er sich auch wandte, doch alle Versuche, ein neues Gespräch mit ihm anzufangen, erwiesen sich als fruchtlos. Der eben noch redselige Seebär war ein Teil der dumpfen, brütenden Masse geworden. Seine Blicke glitten gleichgültig über den Passagier hinweg. Seine gleißenden Augen rissen Löcher in die Nacht und erhellten sie doch nicht. Es war, als gebe es eine Finsternis, die finsterer war als die Dunkelheit, und diese brannte lodernd in den Augen dieser Leute.
Insgesamt mochten drei Dutzend Menschen an Bord sein – Gespenster, wie er sich rasch berichtigte – knapp vierzig Verfluchte. Was für ein Fluch war es, der sie an diese Art der Existenz band? Stand Bernard Fokke, wie die Legende es behauptete, tatsächlich mit dem leibhaftigen Satan im Bund?
Sir Darren war Spiritist und kein Theologe. Er wusste eine Menge über Geister, aber wenig über den Teufel. Er war nicht einmal sicher, ob er an seine Existenz glaubte. Für ihn stand zwar fest, dass es außerhalb der Spukphänomene noch andere Dinge gab, Vorfälle, die man Elementargeistern oder Dämonen zuschreiben oder mit der Wirkungsweise von Magie erklären mochte, aber eine klare Meinung hatte er zu diesen Dingen nicht. Bisher hatte er sich davor gedrückt, sie zu erforschen und einzuordnen, und er war kein Mensch, der sich ein Urteil über etwas bildete, was er nicht eingehend untersucht und durchdacht hatte. Aus Glaubensgründen etwas für richtig oder falsch zu halten, lag ihm fern. Wenn es so etwas wie den Teufel gab, bedeutete das noch nicht, dass die Geschichten, die in der Bibel und in anderen Schriften über ihn verzeichnet waren, der Wahrheit entsprachen. Der Teufel musste nicht der Widersacher Gottes sein – es konnte sich um eine besonders mächtige Spukerscheinung handeln, um einen Naturgeist, und mit etwas Fantasie konnte man in ihm sogar ein außerirdisches Wesen vermuten.
Die Nacht verging, ohne dass Sir Darren Müdigkeit empfand. Zwar stellte er fest, dass es ihm möglich war zu blinzeln und für beliebige Zeit die Augen zu schließen, doch so etwas wie Schlaf schien es in seinem Zustand nicht zu geben. Der Morgen kam nach langem Warten mit einem rosafarbenen Streifen am Horizont, mit kleinen Wölkchen und einem Himmel wie aus einem Pastellgemälde, der einen Menschen mit jedem Schicksal versöhnen konnte.
Beinahe mit jedem.
Das Treiben an Bord war die ganze Nacht hindurch nicht zum Stillstand gekommen, und das änderte sich nicht, als der Tag anbrach.
„Kapitän, wie kommen wir voran?“, rief Sir Darren Fokke entgegen. Im ersten Moment sah es so aus, als wolle der breite Mann ihn abermals ignorieren, doch dann, als er schon an ihm vorübergegangen war, blieb er stehen, drehte sich zu dem Passagier um und betrachtete ihn, als sehe er
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