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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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nicht zu bestimmen, nicht nachzuempfinden waren, da sie nicht Teil der menschlichen Erfahrung waren. Vielleicht spürte man an ihnen das Alter von Seelen, die viel zu oft wiedergeboren worden waren, und das Alter von Gedanken, die man viel zu oft gedacht hatte.
    Sir Darren studierte sie in dem Bewusstsein, dass sie ihn entweder nicht sahen oder sich nicht für ihn interessierten. Für ihn war diese Erfahrung wesentlich weniger dramatisch als für den Erzähler aus Poes Geschichte, denn er war seit acht Wochen ein Gespenst, unsichtbar für die meisten Lebenden.
    Acht Wochen. Ja, die Zeit war endgültig um.
    Er trieb irgendwo im Eismeer nahe der Antarktis, weit davon entfernt, jemals nach Amsterdam oder auch nur in ein von Menschen besiedeltes Land zurückkehren zu können.
    Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass die Frist seiner Wette ausgerechnet zu der Zeit ablaufen sollte, als er auf dieses uralte Schiff kam. Irgendwie passte es zusammen. Er fühlte sich, als wäre er hier am Ende der Zeit angelangt. Eine Ahnung von unendlicher, alles umfassender Harmonie stieg in ihm auf. Ein Kreis schien sich zu schließen. Diese Crew aus alten Menschen – waren auch sie eine Art Geister? Oder waren dies Menschen, die altern, aber nicht sterben konnten? Eine lebendige Variante von Gespenstern? Würde er nun einer von ihnen werden?
    Von einem Gefühl tiefer Ruhe durchflutet, ging er unter Deck, setzte sich in eine der Kabinen und breitete den Briefblock aus. Langsam begann er seine Erlebnisse auf dem welligen Papier niederzuschreiben, nicht alle, nur den letzten Teil seiner Reise von Jakarta an. Den Alkohol, der sich noch in der Flasche befand, schüttete er ins Meer. Er hatte seinen Zweck erfüllt, ihn würde er nicht mehr brauchen. Hätte er die Wunden des schwedischen Matrosen nicht versorgt, hätte dieser ihm möglicherweise nicht seine Tasche bringen können. Alles schien einen tieferen Sinn zu haben, Teil eines komplexen Ganzen zu sein.
    Er sah auf seine Uhr und stellte fest, dass sie zerbrochen war. Er musste sie irgendwo angeschlagen haben, als er auf so unkonventionelle Weise seinen fahrbaren Untersatz wechselte.
    Nach acht Wochen war die Zeit an ein Ende gekommen. Es gab kein Danach mehr. Sir Darren staunte über die poetische Schönheit seines Schicksals. Er hätte sich das Ende schmutzig, hässlich vorgestellt.
    Dabei war es wunderschön – schöner als irgendeine Sekunde seines Lebens gewesen war.
    Das Schiff faszinierte ihn. Er erkundete es ausgiebig und schrieb seine Beobachtungen nieder. Im Gegensatz zu seiner Zeit auf der Libera Nos konnte er sich nun hervorragend auf den Text konzentrieren. Die Wette war verloren, doch es kam ihm vor, als hätte er nichts verloren, sondern alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Alle Gefahren und Stürme lagen hinter ihm – die Angst vor dem Tod ebenso wie die Angst vor dem schrecklichen Geschöpf, das die Libera Nos in neun Faden Tiefe verfolgt hatte.
    Er war frei. Und er hatte gebüßt für die Fehler, die er begangen hatte.
    Mit großer Ruhe sah er dem Moment entgegen, da dieses Schiff in den Mahlstrom am Südpol gerissen werden würde. Er fürchtete sich nicht davor, vertraute darauf, dass ihm nichts geschah, dass er vielleicht sogar durch einen Tunnel die Erde durchqueren und am Nordpol wieder auftauchen würde.
    Jetzt, da die lästige Wette verloren war, war alles möglich.
    Er musste an die Unterweisungen des Buddhismus denken, die nicht lehrten, wie man etwas erlangte, sondern wie man etwas losließ. Er hatte etwas losgelassen und war reicher dadurch geworden. Reicher an Zufriedenheit.
    Das Schiff hielt Kurs nach Süden, unaufhaltsam getrieben von einer starken Strömung. Selbst unter Deck konnte man nun das Kreischen der Eisplatten hören, die gegen den Schiffsrumpf drückten. Sir Darren ging nach oben, mitten in das Krachen und Knarren des Eises hinein. Er hatte das Manuskript in die Flasche gesteckt, diese verkorkt und in der Tasche mit sich an Deck genommen. Das Schiff hätte längst festsitzen müssen, doch die Strömung riss es weiter mit sich, durch die weißen Schollen hindurch.
    Er wusste, dass das Ende nahe war.
    Und es kam.
    Die letzten Zeilen von Poes Geschichte hatte er nicht mehr detailliert im Kopf, doch gewiss war von einem Aufplatzen des Eises und von einem riesigen Strudel die Rede gewesen. Die weiße Schicht, die bereits viele Risse bekommen hatte, barst, doch die wegspritzenden Eisbrocken wurden sofort unter die Oberfläche gezogen, mit ihnen die

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