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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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beschrieben hatte. Die endlosen Tage ohne Hoffnung, die merkwürdige Veränderung, die mit der Sonne vor sich ging, bis sie nur noch ein schwaches, erkaltetes Phantom ihrer selbst zu sein schien, die Temperaturänderung, die am ersten Tag noch für angenehme Kühle sorgte, welche aber rasch in bittere Kälte umschlug. Dann schließlich der Anbruch der sechsten Nacht, das vergebliche Warten auf den Morgen. Das Hinabtauchen in ein enges, schäumendes Wellental. Und das riesige Schiff, das plötzlich über ihnen auf der Spitze eines unermesslichen Wellenberges erschien.
    Da war es, pünktlich, als hätte es jemand dorthin bestellt.
    Allerdings gab es eine kleine Abweichung. In der Geschichte hatte der Schwede den Erzähler auf das Schiff aufmerksam gemacht. Hier war es Sir Darren, der es sah – vielleicht, weil er schon die ganze Zeit über Ausschau danach hielt. Der Matrose kam in diesem Moment unter dem Deck hervorgekrochen, und er trug etwas Helles in der Hand, das der Dozent zunächst nicht beachtete, weil er von dem Anblick des Schiffes gefangen war. Später sah er, dass es sich um seine Tasche handelte. Er hatte sie in einem Schrankfach unter Deck verstaut, damit das Papier, das nass geworden war, in Ruhe trocknen konnte.
    „Bestimmt brauchst du sie“, rief der Seemann. „Da drüben …“
    Was meinte er damit? Sir Darren griff verblüfft nach der Tasche. Der Schwede musste das Schiff also doch schon vor ihm gesehen haben. Wusste er ebenfalls, was geschehen würde?
    Sie rissen beide die Augen auf und sahen hinauf.
    Ein gewaltiger schwarzer Schatten thronte dort oben, so weit von ihnen entfernt, dass es eine andere Welt zu sein schien. Das Schiff war plump und primitiv, und das schwankende rote Licht der Laternen schuf den Eindruck zahlloser pulsierender Herzen unter der dunklen Oberfläche.
    „Bring dich in Sicherheit!“, schrie Sir Darren, doch der Schwede stand nur mit einem weise oder schwachsinnig wirkenden Grinsen neben ihm und meinte: „Ihr habt mich einmal gerettet. Das ist genug. Achtet auf euch und auf die Tasche, hört ihr?“
    Ja. Sir Darren hörte. In diesem Moment ging das noch. In der nächsten Sekunde glitt das Schiff auf sie herab, und alles versank in infernalischem Donnern. Er hatte noch versucht, die Hand des Matrosen zu packen, und hatte sie auch erwischt, doch dieser hatte sie wieder weggezogen. Der Brite fühlte, wie ihr Schiff unter Wasser gedrückt und dann von der Wucht des größeren Schiffs wieder ein Stück angehoben wurde. Das Deck funktionierte wie ein Katapult, und er schoss durch die Luft.
    Der Flug schien kein Ende nehmen zu wollen. Sir Darren, der nur Gischt und Wasser und Dunkelheit wahrnahm, fürchtete für einen Moment, Realität und Geschichte könnten sich an diesem Punkt endgültig voneinander trennen. Er hatte den schwarzen Körper des fremden Schiffes in einiger Entfernung gesehen, und es schien ihm, als würde er in eine ganz andere Richtung geworfen. Da tauchte ein Segel auf, jagte flatternd auf ihn zu, er prallte dagegen, versuchte sich daran festzuhalten und … rutschte ab.
    Ein dickes Tau bremste seinen Fall, schlang sich um seine Beine, und es gelang ihm, sich selbst damit zu fesseln. Er rechnete mit starkem Schwanken und mit der Gefahr, aus der Takelage ins Meer geworfen zu werden.
    Doch das Unwetter konnte dem großen alten Schiff wenig anhaben. Trotzig rauschte es über die wirbelnde See, ungerührt und auf stetem Kurs. Vorsichtig seilte sich der Dozent ab, bemüht, seine Tasche nicht zu verlieren und die Flasche, die auch dieses Abenteuer unbeschadet überstanden hatte, nicht noch beim Abstieg zu zerbrechen.
    Er brannte darauf, die Gestalten, die Poe als unbeschreiblich alt beschrieben hatte, mit eigenen Augen zu sehen.
    Und die gebeugten, schwerfällig dahinschlurfenden Menschen waren es wert, betrachtet zu werden.
    Sie waren in der Tat auf eine besondere Weise alt. Sie vereinigten alle Arten des Alters in sich, die nur vorstellbar waren. Sie waren alt, wie Greise alt waren, aber auch, wie die Ruinen alt waren, die die Archäologen ausgruben. Ihr Alter war das von patinabelegten Bildern und rostigem Metall, das von Höhlenmalereien und von versteinerten Krebsen. Ihr Alter war das überkommener Vorstellungen und barbarischer Sitten, widerlegten Wissens und vergessener Weisheit. Ihr Alter war das Alter des Lichts von entfernten Sternen.
    Und was sie so unheimlich machte, war, dass sie weitere Facetten des Alters an sich hatten, die für den Betrachter

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