80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
ankerten, als das Unglück geschah. Nur eine vage Handlung gab es, nichts Definitives.
Die Fahrt auf dem Fliegenden Holländer musste Sir Darrens Skepsis ausgeschaltet haben. Sieben Wochen als Geist unter Geistern hatten ihn zu einem abergläubischen alten Weib gemacht, und wenn es etwas gab, was man als Spiritist nicht sein durfte, dann war es genau das.
In überraschend guter Laune, erleichtert und erfrischt, suchte er sich ein schönes Plätzchen an Deck, von wo aus er die langsam vorbeiziehende Küstenlandschaft verfolgen konnte. Die letzten Tage wollte er in nachdenklicher, zufriedener Ruhe verbringen. Aufhören, sich gegen sein Schicksal zu wehren. Er hatte sein Leben lang mit Mächten gespielt, die zu groß für ihn waren. Zwar hatte er versucht, dem Jenseits mit Takt und Verständnis gegenüberzutreten, doch es war abzusehen gewesen, dass er eines Tages unter die Räder geraten würde. Er hatte die Risiken und Nebenwirkungen gekannt, als er vor vier Jahrzehnten seine ersten Schritte auf diesem Gebiet unternommen hatte.
Was geschah, war nur natürlich. Auch wenn er die Hintergründe nicht durchschaute, vermochte er das zu sagen.
An Falkengrund dachte er nicht mehr. Auch sonst an niemanden mehr, den er in seinem Leben gekannt hatte. Er hing nicht sehr an lebenden Menschen.
Er versuchte die Landschaft in sich aufzunehmen, die Welt zu sehen und zu würdigen, ehe sich sein Schicksal erfüllen würde.
Er sah vieles, kleine Siedlungen, Fischerboote, lachende, winkende Menschen und kreischende Vögel, und war sehr nahe daran, Frieden mit sich und der Welt zu schließen.
Nach zwei Tagen auf dem Schiff machte er eine Entdeckung, die ihn beunruhigte. Eine einzelne kleine Wolke stand am nordwestlichen Himmel, von eigenartiger goldener Färbung.
Eine einzelne Wolke!
Auch sie war in Poes Geschichte erwähnt worden! Nicht ihre genaue Farbe, aber ihre Position, und dass es die erste war, die man seit der Abfahrt sehen konnte.
Die nächste Übereinstimmung.
Sir Darren versuchte sich zu erinnern, was in der Story mit der Wolke geschehen war. Beim Sonnenuntergang hatte sie sich plötzlich zu einem schmalen Streifen Dunst ausgedehnt. Na schön – bis zum Sonnenuntergang würde es noch zwei, drei Stunden dauern. Er wartete ab. Es ging kaum ein Lüftchen, und das Schiff kam nur langsam vorwärts.
Als die Sonne unterging, geschah, was Poe beschrieb. Aber es war viel eindrucksvoller, überwältigender, als Sir Darren es sich je vorgestellt hatte. Es war nicht wie ein Strand am Horizont (damit verglich es Poe), sondern farbenfroher, schillernder, wie ein enormes Gebilde aus Quecksilber – vollkommen unwirklich.
Der Mond stand am Himmel, und als die Dämmerung fortschritt, glühte er blutrot. Außerdem hatte er das Gefühl, das Wasser würde von innen heraus leuchten und durchscheinend werden. Er konnte den Meeresboden sehen und hätte geschworen, dass er keine fünf Meter von ihnen entfernt war. Eilig überprüfte er das mit dem Lot – es zeigte fünfzehn Faden Wassertiefe, nahezu dreißig Meter.
Seine Welt war ein einziges Déjà-vu geworden. Was er erlebte, hatte er vor Jahren so in der Geschichte von Poe gelesen.
Obwohl die Nacht hereinbrach, nahm die Hitze in der Luft ständig zu, und man sah überall Dampf aufsteigen. Wind gab es keinen mehr, doch das Schiff trieb behäbig auf den Strand zu, und der Kapitän entschied, dass die Segel eingezogen und der Anker hinabgelassen wurde.
„Sir“, sagte der Dozent zu dem Mann, den er um zwei Köpfe überragte. „Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich sehe voraus, was geschehen wird. Es wird noch in dieser Nacht einen Sturm geben, und eine Welle wird die gesamte Besatzung von Bord spülen, alle bis auf mich und einen alten …“
Der Kapitän war bereits weitergegangen, ehe er den Satz beenden konnte.
Sir Darren kletterte unter Deck und überlegte angestrengt, was zu tun war. Die Geschichte lief ab, hier und heute, mitten in der Realität, daran hegte er jetzt kaum mehr Zweifel. Die Frage war, warum er hier war. Konnte er den Lauf der Dinge ändern? Sollte er ihn überhaupt ändern? Es sah beinahe aus wie in einer dieser Zeitreisegeschichten, in denen jemand in die Vergangenheit reiste, um ein Unglück zu verhindern.
Aber dies war nicht die Vergangenheit. Sie waren nicht von dem Batavia der Kolonialzeit gestartet, sondern aus dem Jakarta des 21. Jahrhunderts. Es war die Gegenwart, nur das Schiff war ein Geisterschiff, die Besatzung Gespenster. Da gab es nichts
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