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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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mehr zu retten, das Unglück war bereits geschehen.
    Stundenlang zerbrach er sich erfolglos den Kopf, dann nahm er die Tasche mit den Gegenständen an sich und kehrte an Deck zurück.
    Kaum hatte er es erreicht, da erfolgte der Schlag.
    Er sah die Wasserwand nicht kommen, aber sie musste so hoch sein wie ein kleiner Berg. Das Schiff wurde einem Spielzeug gleich herumgeworfen, Sir Darren knallte gegen irgendeine Wand, dann wurde er in die entgegengesetzte Richtung geschleudert, ein peitschenartiges Schnappen rührte von dem Reißen der Ankerleine her, und ein ohrenbetäubendes Krachen erhob sich über ihm, als die Masten brachen und über Bord kippten. Er sah, wie Menschen, die sich unter Deck aufgehalten hatten, aus dem Bauch des Schiffes herausgespült wurden, denn überall war Holz zersplittert, und das Wasser drang in jeden Winkel ein. Wie er es schaffte, sich festzuhalten, sich und die Tasche, war ihm selbst ein Rätsel. Das Schiff warf sich herum wie ein waidwundes Tier, Ladung rutschte hin und her, und zwischendrin war er, Sir Darrens Geist, und erlebte die Katastrophe staunend und perplex, aber ohne in Panik zu geraten.
    Als das gebeutelte Wrack, von dem plötzlichen Sturm erfasst, aufs Meer hinaustrieb, sah er sich auf dem Schiff um. Es war schwierig, auf dem hüpfenden, schaukelnden Deck Fuß zu fassen, und manchmal brauchte er Minuten, um wenige Meter zurückzulegen. Doch er hatte keine Angst. Es war beinahe, als sehe man sich einen Film an. Man wusste sich in Sicherheit, egal, was auch geschehen würde. Eine Fahrt mit der Achterbahn war gefährlicher. Er fand einige Leichen – Leichen von Geistern? –, die über das nasse Deck rutschten und die sich das Meer eine nach der anderen holte. Der Himmel kreischte, das Wasser grollte, und es war eine eigene kleine, aber perfekt gearbeitete Hölle. Unwillkürlich musste er an den Sturm denken, in den er auf der Libera Nos geraten war und der viele Tage gewährt hatte. Die Crew des Fliegenden Holländers war immer wieder aufgestanden, unverletzt, doch diese Crew stand nicht wieder auf.
    In der Nähe des Ruders fand er einen alten, kahlköpfigen Matrosen, der noch zu leben schien. Er war eingeklemmt und deshalb nicht von Bord geschwemmt worden. Seine Arme und Beine waren mit blutenden Schürfwunden übersät, und er blickte den Briten aus vor Grauen und Schmerz geweiteten blauen Augen an.
    Sir Darren kniete neben ihm nieder und besah sich die Wunden. Man hätte annehmen können, dass das Schiff blitzblank war, nachdem es einige Minuten im Schleuderwaschgang der Natur gesteckt hatte, doch dem war nicht so. Die Küste war nahe, das Wasser verhältnismäßig seicht, und der Sturm hatte den Meeresgrund aufgewühlt, schlammiges Salzwasser übers Schiff gespritzt, den Mann über und über mit schmieriger Erde bedeckt. Herausgerissene Schlingpflanzen lagen auf seinen Beinen und auf seiner Brust.
    „Schwede, nicht wahr?“, fragte Sir Darren, denn dieser Nationalität hatte der zweite Überlebende in Poes Geschichte angehört.
    Der Mann nickte und biss die Zähne zusammen. Er sah nicht wie ein Geist aus. Er hatte Schmerzen. Und seine Wunden waren schmutzig.
    Sir Darren dachte nicht lange nach. Er brachte den Mann an eine Stelle, an der sie beide von dem dreckigen Meerwasser weitgehend geschützt waren. Dann nahm er die Flasche aus der Stofftasche – wundersamerweise war das Glas nicht zerbrochen –, entkorkte sie und begann die Wunde mit dem Alkohol zu desinfizieren. Der Seemann stieß einige Flüche aus, die einen hoffen ließen, dass Gott kein Schwedisch verstand, streckte seinem Helfer aber tapfer die verletzten Arme entgegen.
    „Das werde ich nicht vergessen“, sagte er in rauem Englisch.
    Nachdem sie eine Weile geschwiegen und geruht hatten, begannen sie ein Gespräch. Über das Schiff, ob es zwangsläufig untergehen musste oder ob sie eine Chance hatten, es zu stabilisieren, ob es sich wohl steuern lassen würde. Sir Darren nahm an dem Gespräch teil, verriet aber nicht, dass er zu wissen glaubte, wie ihr Abenteuer weiterging.
    Fünf Tage lang würde der Sturm sie in Richtung Südsüdost vor sich her treiben, dann würden sie in die ewige Nacht des Polartages eintauchen und schließlich dem uralten Schiff begegnen. Er, Darren Edgar, würde auf dieses Schiff geschleudert werden, doch der alte Schwede würde sterben, hinabgerissen in die Tiefe.
    Dieses unangenehme Detail war der Grund, warum er nicht mit ihm über die Zukunft reden wollte.
    Es kam so, wie Poe es

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