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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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nahezu jeder vorstellbaren Weise schlimmen Schaden genommen, doch zu unserer großen Freude durften wir erkennen, dass die Pumpen nicht verstopft waren und unser Ballast kaum verrutscht. Die Hauptwucht des Sturms war bereits vorüber, und wir erwarteten kaum neue Gefahren vom Wind. Vielmehr sahen wir seinem totalen Verebben mit Bestürzung entgegen, da wir davon ausgehen mussten, dass wir in unserem desolaten Zustand unweigerlich in der Dünung untergehen würden, die darauf folgen würde.
    Doch die Erfüllung dieser berechtigten Sorge schien lange auf sich warten zu lassen. Fünf ganze Tage und Nächte – während deren wir ausschließlich von Zucker lebten, den wir unter großen Schwierigkeiten aus dem Vorderkastell bargen – flog das Wrack mit einer Geschwindigkeit dahin, die sich jeglicher Berechnung entzog, ehe sich immer häufiger Flauten einstellten, die sich, obwohl sie nichts waren im Vergleich zu dem ersten Windstoß des Hurrikans, furchtbarer ausnahmen als jeder Sturm, den ich je erlebt hatte. Unser Kurs war in den ersten vier Tagen – mit geringen Abweichungen – Süd-Südost, und wir müssen an der Küste von Neu-Holland entlanggesegelt sein.
    Am fünften Tag wurde es außergewöhnlich kalt, obwohl der Wind eher in nördliche Richtung gedreht hatte. – Die Sonne ging mit einem ungesunden gelben Glanz auf und kletterte wenige Grad über den Horizont, ohne ein klares Licht abzugeben. – Keine Wolken waren auszumachen, doch der Wind nahm zu und blies mit launischer, unbeständiger Heftigkeit. Gegen Mittag, falls wir die Zeit richtig schätzten, wurde unsere Aufmerksamkeit erneut von dem Aussehen der Sonne gefangengenommen. Sie gab nichts ab, was man Licht nennen konnte, sondern ein stumpfes, düsteres Glühen ohne Reflektion, als ob all ihre Strahlen polarisiert wären. Kurz bevor sie in die schwellende See sank, erstarben die Feuer in ihrem Inneren plötzlich, als würden sie eilig von einer unerklärlichen Macht gelöscht. Sie war nichts als ein matter, splitterartiger Rand, als sie in den unermesslichen Ozean tauchte.
    Wir warteten umsonst auf das Kommen des sechsten Tages. Für mich ist dieser Tag noch nicht angebrochen, für den Schweden wird er nie kommen. Wir waren fortan von fleckiger Dunkelheit umgeben, so dass wir nichts hätten ausmachen können, was zwanzig Schritt vom Schiff entfernt war. Ewige Nacht hüllte uns weiterhin ein, nicht einmal gemindert von jenem phosphoreszierenden Meeresleuchten, das wir aus den Tropen kannten. Wir stellten auch fest, dass, obgleich der Sturm mit unverminderter Wildheit toste, nichts mehr zu sehen war von der üblichen Brandung oder dem Schaum, die uns bisher begleitet hatten. Um uns herum war Grauen und eine schwarze, schmorende Wüste aus Ebenholz.
    Abergläubische Angst machte sich mehr und mehr in dem alten Schweden breit, und meine eigene Seele war in schweigendes Staunen gehüllt. Wir stellten alle Reparaturarbeiten am Schiff ein, die uns nun sinnlos erschienen, sicherten uns, so gut es ging, an dem Stumpf des Besanmasts und starrten voll Bitterkeit auf den Ozean hinaus. Wir hatten keine Mittel, um die Zeit zu messen, noch konnten wir vermuten, wo wir uns befanden. Wir waren uns allerdings bewusst, dass wir weiter südwärts getrieben waren als alle früheren Navigatoren, und waren verblüfft darüber, nicht wie erwartet auf Hindernisse aus Eis zu stoßen. In der Zwischenzeit mochte jeder Augenblick unser letzter sein – jede berghohe Woge bemühte sich, uns umzuwerfen. Die Dünung übertraf alles, was ich für möglich gehalten hatte, und dass wir nicht auf der Stelle in die Tiefe gerissen wurden, ist ein Wunder. Mein Kamerad sprach von der Leichtigkeit unserer Ladung und erinnerte mich an die exzellente Qualität unseres Schiffes; aber ich konnte nicht anders, als jedes Hoffen selbst als hoffnungslos zu empfinden, und bereitete mich ernst auf den Tod vor, von dem ich annahm, dass er durch nichts mehr länger als eine Stunde abgehalten werden konnte, denn mit jeder Knotenlänge, die das Schiff zurücklegte, wurde das Wogen dieser schwarzen, unbeschreiblichen Gewässer schrecklicher.
    Manchmal rangen wir um Atem, wenn wir höher hinausgehoben wurden, als der Albatros fliegt, und manchmal kämpften wir mit dem Schwindel, wenn wir mit rasender Wucht in eine Hölle aus Wasser hinabschossen, wo die Luft stockt und kein Laut den Schlaf des Kraken stört.
    Wir waren in der Tiefe eines dieser Abgründe, als ein kurzer Schrei meines Kameraden schauerlich die

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