80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
Teile getroffen wurde. Sie konnten es zwar nicht verletzen, aber sie beschäftigten es und hielten es von seinem Opfer fern.
Für wie lange?
Seine einzige Hoffnung war, dass der Strudel sie beide immer weiter voneinander entfernte, bis das Ungeheuer ihn aus den Augen verlor. Eine lächerliche Hoffnung! Es hatte ihn von Batavia bis zum Südpol verfolgt. Zweifellos hinterließ sein vor Angst blutender Verstand eine Spur im Ozean, die nicht zu übersehen war, solange er sich auf diesem Planeten befand …
Er kam an die Oberfläche und steckte inmitten eines riesigen zerbrechenden Eisfeldes. Den Mittelpunkt des Strudels konnte er undeutlich in der Ferne erkennen, durch einen schillernden Vorhang aus empor spritzenden Eisstücken und Schneenebel. Tonnenweise strömten die Schollen dorthin, um sich in die Tiefe reißen zu lassen, und doch kam immer neues Eis nach. Wenn er nach den weißen Brocken griff, wurde er von ihnen mitgezogen; sobald er sie losließ, vermochte er sich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Mit seiner Willenskraft.
Ein lebendiger Mensch wäre längst erfroren oder zwischen den krachend mahlenden Eisblöcken zerquetscht worden. Ganz zu schweigen von dem Tod durch Ertrinken, der ihn während der Minuten, die er unter der Oberfläche zubrachte, ereilt hätte. Die Gefahren dieser Welt konnten ihn nicht töten, denn er war schon tot, doch dieses Geschöpf aus dem Meer – da glaubte er sicher zu sein – war dazu in der Lage, ihn zu vernichten, restlos auszulöschen. Unter normalen Umständen hätte er darüber nachgedacht, ob eine rückstandslose Entfernung des Sir Darren Edgar aus dieser Welt nicht eine verlockende Wahl abgegeben hätte. Die Angst jedoch, mit der dieses Wesen ihn bis zum Erbrechen fütterte, ließ die eigene Vernichtung wie ein infernalisches Fest des Schmerzes erscheinen. Kein Mensch, kein Geist, nichts würde sich diesen Schmerz wünschen, egal, was danach kam. Selbst das monumentale Naturschauspiel, das um ihn herum ablief, vermochte die Angst, die es in seine Seele gepflanzt hatte, nicht für einen Moment zu überdecken, und er nahm es kaum wahr.
Sir Darren floh. Durch das Wasser, durch das Eis, aus dem Wirkungsbereich des Strudels hinaus.
Es war eine schwer zu begreifende Art der Flucht. Er hätte sich nicht zu bewegen brauchen, denn was ihn antrieb, war keine physikalische Kraft, sondern die Macht, die er über seinen Geisterleib hatte, und trotzdem tat er so, als würde er schwimmen. Er schwamm wie von Sinnen um sein Leben. Dies entsprach seinen Erfahrungen als Mensch und half ihm, seinen Willen zu konzentrieren. Von seinem Verfolger sah er nichts mehr, aber er glaubte zu spüren, wie er ihm in neun Faden Tiefe folgte. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass die schwarzen Flossen, die wie die zerfetzten Segel eines Piratenschiffs waren, seine Beine streiften. Jetzt, wo die kreisende Strömung immer schwächer wurde, würde das Wesen nicht mehr weggetrieben werden. Das Geschöpf, das ohne Frage eine körperliche Existenz hatte und doch viel mehr war als irgendein Meerestier, würde leichtes Spiel mit ihm haben.
Aber es wartete. Lauerte.
Bestimmt war es sich seiner Sache sehr sicher.
Das Packeis wurde jetzt dichter, die Risse darin schmäler, und schließlich hievte sich Sir Darren aus dem Wasser und stieg auf das Eis. Seine Kleider hingen nass und schwer an ihm, doch als er ein paar Schritte gegangen war, waren sie plötzlich so trocken wie zuvor.
Er lief über das Eis, machte kleine Sätze über die Spalten, die sich immer wieder auftaten, rannte weiter. Aus den Schollen wurde eine kaum mehr unterbrochene weiße Fläche, doch das reichte nicht, um sich in Sicherheit zu wähnen. Aufmerksam hielt er Ausschau nach einem Schatten unter dem Eis, und dass er keinen sah, beruhigte ihn nicht im Geringsten.
Die Sicht war nicht besonders gut. Weißer Nebel lag über der Ebene, und ein böiger Wind trieb kleine Schneestürme vor sich her. Das Rauschen des Strudels verschwand, vom Nebel gedämpft, in der Ferne, und die knirschenden Geräusche, die das Eis von sich gab, sorgten dafür, dass man den viele tausend Meter tiefen Ozean keinen Moment lang vergaß, den die Eisschicht nur wie eine dünne Haut überzog.
Wie lange er lief, konnte er nicht sagen. Er wusste, dass, selbst wenn er wochenlang fliehen musste, das Eis eines Tages zu Ende sein würde, und dann gab es nur noch das Meer. Würde er auch über das Wasser gehen können, wie über das Eis?
Seine Psyche reagierte
Weitere Kostenlose Bücher