80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
geschickt. Dass wir dich in dieser Einöde aufgegabelt haben, ist der letzte Beweis dafür. Ein Schiffbrüchiger, der über das ewige Eis daher geschneit kommt – das nimmt mir doch im nächsten Hafen niemand ab, Mann!“
Auch jetzt zog der Vogel seine weiten Kreise um das Schiff, stumm und majestätisch. Die Männer sahen zu ihm auf wie zu ihrem Beschützer, und einer wisperte dem Dozenten mit übelriechendem Atem ins Ohr: „Er führt uns hier heraus. Das Eis war fest, bevor er kam.“
Sir Darren erreichte die hoffnungsfrohe Stimmung nicht. Seine Gedanken waren woanders.
Zuerst war es nur eine verrückte Eingebung gewesen, doch mit jeder Minute an Bord verdichtete sich die Vermutung.
Die Situation erinnerte ihn mit frappierender Deutlichkeit an ein Gedicht. Ein Gedicht, das jeder Brite kannte – eine romantische Schauerballade.
Ein Dichter namens Samuel Tayler Coleridge hatte gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein Werk mit dem Titel „The Rime of the ancient mariner“ verfasst. Es handelte von einem Seemann, dessen Schiff von einem Sturm in die Eiswelt des Südpols abgetrieben wurde. Die Dinge schienen aussichtslos, bis ein Albatros erschien, der ihnen einen kräftigen Südwind und damit neue Hoffnung brachte. Doch der Seemann tötete den Vogel, das Glück wendete sich, und für ihn und seine Besatzung begann eine Reise ins Grauen, in deren Verlauf er verflucht wurde und alle seine Kameraden ihr Leben verloren.
Die grausig-schöne Ballade vom alten Seemann, der seine Geschichte einem nur widerwillig zuhörenden Hochzeitsgast aufdrängt, gehörte für Generationen von Briten zur literarischen Allgemeinbildung. Motive aus dem Gedicht tauchten auf Gemälden auf, Theaterstücke basierten darauf. Zuletzt hatte die Heavy Metal-Band Iron Maiden das Gedicht vertont und es damit einer Generation nahegebracht, aus deren Gedächtnis es eben zu verschwinden drohte.
Sir Darren war sich bewusst, dass er die Tasche noch immer bei sich trug. Die Flasche und das Schreibzeug hatte er eingebüßt, doch als letzter der Gegenstände, die ihm die Gespenster im British Reformers Club auf seine Reise mitgegeben hatten, war ihm eine kleine, handliche Armbrust mit einem einzigen Pfeil geblieben.
Der furchtbare Beweis für die Richtigkeit seiner Vermutung.
Dies war die Ballade vom alten Seemann. Er befand sich mitten darin, so wie er sich vor kurzem noch mitten in einer Geschichte von Poe befunden hatte.
Die ausgelassene Stimmung an Bord täuschte ihn nicht. Ihnen allen stand ein unvorstellbares Grauen bevor, ganz besonders ihm selbst.
Denn die Waffe, mit der der Seemann den glücksbringenden Vogel getötet hatte, war eine Armbrust gewesen …
2
Es würde lächerlich einfach sein, das Schicksal abzuwenden.
Er kannte das Gedicht, kannte den Fehler des Seemanns (Millionen von Schulkindern hatten entnervt Aufsätze darüber geschrieben) und würde dafür sorgen, dass er auf diesem Schiff nicht begangen wurde. Der Albatros würde sie aus der Gefahr führen, und es gab nicht den geringsten Grund, ihm den Pfeil durch die Brust zu jagen. Selbst, wenn Sir Darren nie von der Ballade gehört hätte, hätte er eine solche Tat niemals begangen, und da er die Folgen kannte, um den Fluch wusste, würde er es erst recht nicht tun. Im Gegensatz zum letzten Teil seiner Reise, wo er zum tatenlosen Zuschauen verdammt gewesen war, wo er nichts gegen den Sturm und gegen die Fahrt in den Mahlstrom hatte unternehmen können, lag es nun allein an ihm selbst, die Entscheidung zu treffen. Und seine Entscheidung stand fest.
Er würde das unschuldige Tier verschonen, und die Heimreise würde ereignislos und still verlaufen. Erstmals, seit er aus Amsterdam aufgebrochen war, hielt er die Fäden in der Hand.
Aber … war es wirklich so einfach?
Warum hatte er die Armbrust erhalten? Warum war sie ihm auf seiner turbulenten Reise bisher nicht abhandengekommen? Musste es nicht irgendeinen Sinn ergeben, dass er im Club damit ausgerüstet worden war?
Falls es geschehen war, um ihn auf die Probe zu stellen, um seine Moral einem Test zu unterziehen, würde er problemlos bestehen können. Doch war das überhaupt denkbar?
Die Moral eines Menschen ließ sich nur prüfen, wenn dieser nichts von ihren Folgen ahnte. Eine Untat, die aus Angst vor Strafe nicht begangen wurde, deutete nicht auf einen guten Charakter hin. Die Situation konnte aus zwei Gründen keine Moralprobe sein: Erstens, weil er keinerlei Grund hatte, den Albatros zu töten, und zweitens, weil er
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