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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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war es, der dort oben seine Kreise zog, elegant und ruhig. Ein Vogel, der das Schiff begleitete, zu groß für eine Möwe. Wenn er sich ein wenig drehte, erkannte man die weißen Flügelunterseiten mit den schwarzen Konturen.
    Ein Albatros.
    Das löste eine Assoziation in ihm aus. Eine Erinnerung kam an die Oberfläche.
    Sir Darren fragte sich, ob es möglich war, dass …
    Nein. Auf keinen Fall!
    Albatrosse waren gewiss keine Seltenheit in diesen Gewässern. Bestimmt begleiteten sie des Öfteren Schiffe, so wie man es in küstennaher Lage von den Möwen gewohnt war. Solange die Vögel von den Menschen gefüttert wurden, folgten sie ihnen, wohin sie sich auch verirrten.
    Und doch … dieses historische Schiff im ewigen Eis …
    „Ahoi!“, erreichte ihn ein Ruf. „Bist du wirklich ein lebendiger Mensch, du da draußen?“
    Nein, dachte der Dozent. Und ihr seid es auch nicht. Der beste Beweis dafür ist, dass ihr mich sehen könnt.
    „Ich bin ein Mensch“, schrie Sir Darren zurück, indem er mit den Händen ein Megaphon formte. „Ich habe Schiffbruch erlitten!“
    „Die Vorsehung geht seltsame Wege!“, kam die rasche Antwort in derselben Weise. „Kommt an Bord!“
    Eine Strickleiter wurde ausgeworfen, schlug gegen den dunklen hölzernen Rumpf und prallte dann gegen das Eis, dass Schneestaub spritzte. Während der Dozent darauf zulief, dachte er über die Formulierung nach. Der Seemann schien von vornherein nicht davon auszugehen, dass ihre Begegnung zufälliger Natur war. Er sprach von der Vorsehung, vom Schicksal. Da hatte er Sir Darren etwas voraus. Es war Zeit, dass er aufhörte, immer zuerst den Zufall zu bemühen, obwohl er in den letzten Monaten wenig erlebt hatte, was auch nur im Entferntesten etwas damit zu tun hatte.
    Von jetzt an werde ich den Zufall ausschließen, schwor er sich. Was immer auch geschieht, ich werde es als Bestimmung sehen, als Steinchen in einem Mosaik. Alles andere bringt mich nicht weiter.
    Es war ein weiter Weg nach oben, und bestimmt hätte er auch empor schweben können, aber er fürchtete sich davor, etwas zu tun, wozu er als lebender Mensch nicht in der Lage gewesen wäre. Es erschien ihm … taktlos … unfein … Er hatte Angst, damit alles zu verpatzen, wie ein Schauspieler, der mitten in der Aufführung herausplatzte: „Aber ich bin kein Hamlet! Ich heiße John Smith und bin nur ein kostümierter Mime mit einer Perücke auf dem Kopf!“
    Als er die Reling erreicht hatte, reckten sich ihm sieben, acht kräftige Hände entgegen und hoben ihn an Bord. Es waren raue Seeleute, in dicke Wollsachen gekleidet, mit borstigen Bärten voller Eiskristalle. Überrascht sah er ihren Atem in dicken Schwaden aus ihren Mündern aufsteigen. Ihre Nasen und Wangen waren rot und ihre Gesichter voller geplatzter Äderchen.
    „Du musst halb erfroren sein, in diesen Kleidern!“, stieß ein kleiner Kerl mit langen roten Haaren hervor. „Wie heißt das Schiff, auf dem du Passagier warst?“
    „Ich … weiß es nicht“, erwiderte Sir Darren. Fasziniert schielte er auf seinen Atem – und konnte ihn sehen! Er atmete! Seit Monaten hatte er nicht mehr geatmet. Und er wusste nicht einmal, wann er damit begonnen hatte. Er hatte den Moment – diesen wichtigen Moment – nicht mitbekommen!
    Jemand warf ihm eine nach Fisch stinkende Decke über die Schultern und rubbelte ihn so heftig ab, dass der Dozent das Gefühl hatte, er wolle ihn zerreiben. Dass er verwirrt war, nicht einmal den Namen seines Schiffs sagen konnte, schien die anderen nur zu amüsieren. Sie hatten eine sichtliche Freude dabei, die Lebensgeister in dem todgeweihten Schiffbrüchigen zu wecken. Überhaupt herrschte eine hervorragende Stimmung an Deck. Selten hatte er an Bord eines Schiffes so viele fröhliche, lachende Gesichter gesehen. Es war das glatte Gegenteil zu der tristen Atmosphäre auf der Libera Nos oder auf dem uralten Schiff, das ihn in den Strudel befördert hatte. Man feierte seine Rettung als großen Triumph.
    „Siehst du den Vogel da oben?“, sprach ihn ein glatzköpfiger Seemann an, der jederzeit als Pirat durchgegangen wäre. Er trug eine kreuzförmige Narbe mitten auf der Stirn und hatte ein breites Froschmaul, in dem ein Apfel am Stück verschwinden mochte. „Wir dachten schon, wir hätten die letzte Buddel Rum getrunken.“
    „Eisberge“, warf ein anderer gestikulierend ein, „so hoch wie die Masten.“
    „Und höher!“, rief ein weiterer. „Der Albatros bringt uns Glück – der Himmel hat ihn

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