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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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den Tod versöhnen. Ohne Frage stürmen wir einem faszinierenden Wissen entgegen – einem Geheimnis, das niemals preisgegeben werden darf und dessen Erlangen die Vernichtung mit sich bringt. Vielleicht trägt uns diese Strömung zum Südpol selbst. So verstiegen diese Vermutung auch anmuten mag, man muss gestehen, dass alles für ihre Erfüllung spricht.
    *
    Die Mannschaft geht mit unruhigen und zitternden Schritten über das Deck, doch in ihren Mienen liegt viel mehr ein Ausdruck glühender Hoffnung denn eines apathischen Verzweifelns.
    Inzwischen ist der Wind immer noch in unserem Heck, und da wir eine Menge Segel gesetzt haben, wird das Schiff manchmal vollständig aus dem Meer gehoben. Oh, Grauen über Grauen! Das Eis tut sich plötzlich zur Rechten auf, und zur Linken, und wir drehen uns in gewaltigen konzentrischen Kreisen immer und immer wieder am Rand eines riesigen Amphitheaters. Der Gipfel dieser Wände verschwindet in der Dunkelheit und in der Ferne. Doch mir bleibt wenig Zeit, um über mein Schicksal nachzusinnen – wir stürzen wild im Griff des Strudels – und inmitten des Dröhnens und Brüllens und Donnern des Ozeans und des Sturms wird das Schiff durchgeschüttelt, und, oh Gott!, taucht hinab.

Das weiße Blatt – ein Nachwort von Martin Clauß
    „Manuscript found in a bottle“ aus dem Jahr 1833 war zu Lebzeiten des Autors offenbar nicht ganz unpopulär. Die Geschichte erhielt einen Preis und wurde häufig nachgedruckt. Dem heutigen Leser allerdings fallen bei dem Namen Edgar Allan Poe zunächst andere Werke ein. Warum haben „The fall of the house of Usher“, “The pit and the pendulum” oder “The tell-tale heart” die Jahrhunderte besser überdauert als diese Story von dem arglosen Reisenden, den ein Sturm an einen Ort treibt, wo Raum und Zeit sich aufzulösen scheinen?
    Die Antwort liegt freilich auf der Hand: In der Mitte des 19. Jahrhunderts fiel es den Menschen noch leichter, über die Südpolarregion wild zu fantasieren. Zwar wurde die Antarktis schon 1820 entdeckt (also ein gutes Jahrzehnt vor der Veröffentlichung von Poes Story), doch die Erkenntnisse, die man darüber gewonnen hatte, waren spärlich, und wenig davon dürfte die Öffentlichkeit erreicht haben. Die Jahrhunderte des ungehinderten Fabulierens waren durch diese Entdeckungen nicht vom Tisch gewischt worden, vielmehr wurde das Thema von den vagen Neuigkeiten eher mit frischem Leben erfüllt. Poe selbst war vom Südpol so angetan, dass er sich gleich in mehreren seiner Erzählungen damit auseinandersetzte. „The narrative of Arthur Gordon Pym“ ist die umfangreichste und wohl bekannteste davon.
    Die Faszination, die die Pole auf die Menschen ausübten, hatte auch etwas mit der Vorstellung von der „Hohlen Erde“ zu tun. Nach dieser Theorie soll der Erdball hohl, eventuell von Menschen bewohnt und über Öffnungen in den Polen zu erreichen sein. Ernsthafte Verfechter dieser Theorie gab es im 19. Jahrhundert nicht wenige, und Poe greift diese Vorstellung in „The narrative of Arthur Gordon Pym“ auf und scheint sie in „Manuscript found in a bottle“ zumindest anzudeuten.
    Die Antarktis war in doppelter Hinsicht ein weißer Fleck auf der Landkarte – denkt man an diese endlosen weißen Eisfelder (vom Packeis bis zum antarktischen Kontinent selbst), hat man bis heute das Gefühl, in ein Nichts zu blicken, nicht einfach in ein wenig erforschtes Gebiet unserer Erde. Eine Eiswüste ist etwas anderes als ein Dschungel. Man stelle sich die Expeditionen vor, die ausziehen, um einen großen weißen Fleck auf der Karte zu füllen – und in der Wirklichkeit zunächst nicht viel anderes vorfinden als eben … einen großen weißen Fleck. Das hat etwas Groteskes und Fantastisches an sich. Man könnte fast eine Verspottung des wissbegierigen Menschen darin sehen.
    Heute steht nicht mehr das Weiß des Südpols für diese faszinierende Leere, die Forscher und Geschichtenerzähler auf ihre Weise zu füllen versuchen, sondern die Schwärze des Weltraums. Astronomen wie auch SF-Autoren bekommen rote Ohren, wenn sie daran denken: Ein großes Gefäß aus Dunkelheit, in dem unsere Erde schwebt, und von dessen Inhalt wir bislang nur kleine Bruchteile gesehen haben. Das Weltall ist der Ort, an dem Dinge möglich werden, die wir aus unserem Alltagsleben nicht kennen. Die Gesetze der Physik werden scheinbar aufgehoben, Zeit verändert ihre Geschwindigkeit, der Raum wird gekrümmt, Materie und Energie werden eins – und die paar

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