80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
Milliarden außerirdischer Rassen, die es da draußen theoretisch geben könnte, verblassen beinahe zu schmückendem Beiwerk angesichts der irrwitzigen und spannenden Kapriolen, die unsere Naturgesetze schlagen.
Um diese Kapriolen geht es auch in Poes Geschichte. Anstatt den Südpol mit bizarren Lebensformen und Ungeheuern zu füllen, wie es der eine oder andere Schriftsteller getan hat, geht es ihm um die Aufhebung unserer Physik an sich. Aus diesem Grund braucht er auch eine Hauptfigur, die zunächst allzu fest an die Gesetze der Physik glaubt. Das Weiß auf der Landkarte, das Weiß in der Natur, das alles läuft in der ekstatischen Schlussszene gewissermaßen auf nichts anderes hinaus als auf ein weißes, leeres Blatt Papier. Alles Wissen, das der Erzähler angesammelt hat, jedes Buch, das er gelesen hat, sind sinnlos geworden – alle Texte gehören ausgelöscht, und die Werke der Physik müssen in den Zustand des leeren, weißen Papiers zurückgeführt werden. Das Manuskript, das er in der Flasche verschließt, soll nicht etwa die Nachwelt über sein persönliches Schicksal informieren, sondern soll den Anstoß geben, das Wissen der Physik auszulöschen und einen totalen Neuanfang zu wagen. Dieser Gedanke mag eine Art von Grauen in wissenschaftsgläubigen Menschen auslösen, aber er hat auch etwas Befreiendes. In der Wissenschaft hat es immer wieder solche Neuanfänge gegeben, auch wenn sie nie durch eine Flaschenpost vom Südpol ausgelöst wurden …
In der Literatur über Poe findet man mitunter die bissige Bemerkung, dass der Meister des Horrors in der Tat einige seiner Manuskripte „in der Flasche gefunden“ haben muss, eine Anspielung auf den Alkoholismus des Schriftstellers. Hier, in einem seiner Frühwerke, hat er Weiß in Weiß ein faszinierendes Bild gemalt, ein Werk, in dem es einmal nicht um die Figuren geht, sondern um die Gesetze der Wirklichkeit. Wir leiden nicht mit dem Ich-Erzähler, fiebern nicht mit den uralten Männern auf dem Schiff, sondern fragen uns, ob das, was wir zu wissen glauben, wirklich die ganze Wahrheit ist.
Wer von uns hat den Südpol schon mit eigenen Augen gesehen?
ENDE
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Nr. 23 -
Das Grauen der Mary Celeste
1
Er drehte sich unter der Berührung des Wesens weg. Schnell genug, um das schlimmste zu vermeiden. Und doch zu langsam.
Dort, wo die zerrissen anmutenden Fangarme ihn streiften, spürte er einen Schmerz, wie er ihn als Lebender niemals empfunden hatte. Eine Hitze war es, die alles zu verbrennen schien, was er je gewesen war, nicht nur sein Fleisch, sein Blut, seine Knochen, sondern seine Existenz schlechthin, seine Vergangenheit und Zukunft, die Erinnerung an ihn, rundweg alles.
Er stieß einen ungehörten Schrei aus, in die Dunkelheit des Ozeans hinein. Keine Luftblasen stoben dabei aus seinem Mund, und seine Gespensterarme verdrängten das Wasser nicht, an dem sie sich festzuhalten versuchten. Ein zweiter Angriff blieb aus, der Schmerz ließ nach, und das Gefühl, reagieren zu müssen, kehrte zurück. Mut konnte man es nicht nennen, es war nichts als ein Stück Selbstbehauptung, aber es war besser als nichts.
Unter sich glaubte er ein waberndes Licht zu erkennen. Im ersten Moment schrieb er es fluoreszierenden Meerestieren zu, so fahl und grün war es, doch dann erkannte er, dass er sich getäuscht hatte. Was er für unten hielt, war in Wirklichkeit oben, und das Licht musste das der Sonne sein. Sein Geisterkörper spürte den Auftrieb des Wassers so schwach, dass er sich kaum zurechtfand.
Dazu kam diese finstere Angst, die sein Bewusstsein völlig zu überdecken drohte wie ein sich immer weiter ausbreitender Tintenfleck auf einem Dokument, das einst eine Bedeutung gehabt hatte.
Das Wesen, dessen bloße Anwesenheit in ihm eine Furcht nahe an der Grenze zum Wahnsinn schürte, streckte seine Arme nach ihm aus. Schwarz, löchrig, vermoderten Wasserpflanzen gleich, näherte sich ihm ein Dutzend dieser Tentakel, doch ehe sie zugreifen konnten, riss die Strömung sie davon.
Nach wie vor befanden sie sich am Rande des Strudels, drehten sich in einem immer größer werdenden Kreis um ein höllisches, schmatzendes, gurgelndes Zentrum. Von dem Schiff war längst nichts mehr zu sehen. Graue Bruchstücke von Packeis stießen ins Wasser und wurden von der Strömung in die Tiefe gerissen. Es sah aus, als hagelte ein Regen aus Trümmerteilen zerfallender Gebäude auf sie herab. Sir Darren erkannte mit Befriedigung, dass das Geschöpf von mehreren dieser
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