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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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solche Waffe hatte er noch nie bedient, und ihm blieb nicht viel Zeit. Die ersten sahen bereits zu ihm herüber, und schartige Stirnen legten sich in schwitzende, enge Falten. Er setzte die Armbrust an, wunderte sich, wie hart sie war, wie Metall. Zuerst folgte er dem Flug des Vogels, doch dann merkte er, dass er auf diese Weise immer ein Stück hinter ihm blieb. Also änderte er seine Bewegung und machte, dass der anvisierte Punkt von der anderen Seite auf den Vogel zu flatterte wie ein liebeshungriger Artgenosse, und dann zog er den Abzug und ließ seinen tödlichen Amorpfeil auf ihn zu schnellen.
    Nahezu zeitgleich prallte von der Seite ein Körper gegen ihn und stieß ihn zu Boden. Er wusste nicht, was mehr wehtat – der Aufprall auf die Planken, der ihm die Schulter auskugelte und seinen Arm abzureißen drohte, oder der Schrei des armen unschuldigen Albatros, der oben im Himmel begann und auf dem Schiff endete, wo der Vogelkörper aufschlug, unweit von ihm. Ein Flügel zuckte, Blut sickerte aus dem Schnabel, dann war es vorüber.
    Der Pfeil hatte getroffen.
    Das Tor zur Hölle war aufgestoßen worden.

3
    Durch einen Schleier aus echten, nassen, brennenden Tränen erkannte Sir Darren den Tumult, der an Bord ausbrach. Dutzende grässlicher Seemänner mit schwellenden, an Krebsgeschwüre erinnernden Muskeln stürzten aus allen Richtungen auf ihn zu, ihre Zähne ausgeklappt, ihre Münder so groß, dass ihre angriffslustigen Oberlippen ihre Augen zu verdecken drohten. Gespaltene Kinne, riesige, taudicke Sehnen, die ihre Köpfe mit den Körper verbanden, darüber rote und blaue Venen wie zerknitterte Elektrokabel. Es war eine Welle des Hasses, so heftig, dass sie einige der Seeleute über Bord zu schwemmen drohte. Es kam zu Kämpfen. Dort wo die besonneneren Matrosen ihre aufgebrachten Kameraden zurückzuhalten versuchten, flogen Körper durch die Luft und breite Salven aus Schweißtropfen, und mindestens einer der Schweißtropfen war groß genug, um ein Zahn zu sein, und machte auf dem Deck das entsprechende klackende Geräusch.
    Sir Darren sah bereits im Geiste, wie sie ihn zerschmettern würden. Er fühlte – und das war real –, wie jemand seine Füße packte und dazu ansetzte, seinen Körper herumzuwirbeln, wie manche Eltern es mit ihren Kindern machten, nur, dass sie dabei lachten und nicht vor Wut heulten, und dass sie es auf weiten, freien Wiesen taten und nicht versuchten, den Kopf ihres Kindes gegen einen Mast zu dreschen.
    Der erste Versuch, Sir Darren zu töten, misslang, und der Mann, der den Vogel getötet hatte, erlebte noch eine zweite Fahrt auf dem Karussell. Dann prallte er mit der Hüfte gegen einen Matrosen und wickelte sich beinahe um ihn. Nachdem er monatelang keine Schmerzen gespürt hatte, war es wie ein spirituelles Erlebnis, sie gleich in diesem Überfluss genießen zu können. Eine Neugeburt.
    „Aufhören, verdammt!“, brüllte der Kerl, der dazwischen gegangen war. „Er ist unser zweiter Glücksbringer, und er ist wertvoll! Wertvoll, weil wir den ersten verloren haben.“
    „Verloren?“, verspritzte der Mann, der die Füße des Dozenten an den Knöcheln hielt, seinen Speichel. „Verloren? Er hat’s getan! Er hat den verfluchten Himmel vom Himmel geholt!“
    Poetisch , dachte Sir Darren in seinem entrückten Zustand. Dieser Mann hat Talent. Es müsste ihm jemand sagen, dass er in der Ballade vom alten Seemann mitspielt. Es würde ihn vielleicht freuen. Und milder stimmen. Gott, Milde! Keine Gnade, das nicht, aber Milde, bitte! Ich bin doch auch nicht mehr als ein Schauspieler, irgendein John Smith in einem staubigen Kostüm und einer Perücke, der seinen Text spricht – kein Hamlet!
    Seine Schuhe hatte er verloren. Man ließ ihn auf das Deck fallen, und zum ersten Mal in seinem Leben kam er sich wie ein Stück Müll vor. Etwas, das man einfach wegwarf, weil es seine Schuldigkeit getan hatte. Seine Armbrust wurde aufgehoben, während man ihn liegen ließ, und man zerlegte die Waffe und warf ihre Bruchstücke ins Meer, während man das, was von ihm übrig war, nicht weiter zerkleinerte. Man ließ den Hass an dem Werkzeug aus, das er benutzt hatte, dabei hatte er sich auch als Werkzeug gefühlt, als Werkzeug des Gedichts.
    „Der Vogel, der uns den Wind gebracht hat, ist tot.“ Jemand sagte das, jemand, der neben ihm stand und mit der Spitze des Schuhs seine ausgekugelte Schulter antippte, bis er schrie. Und noch ein bisschen länger.
    „Ja, aber der Wind bläst noch.“
    Sir

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