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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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wusste, wie bitter er bezahlen würde, falls er es dennoch tat.
    Bedeutete das nicht, dass genau das Gegenteil von ihm erwartet wurde? Die Flasche und das Schreibzeug hatte man ihm gegeben, damit er seine Erlebnisse niederschreiben konnte, wie es Poes Geschichte vorgab. Das deutete darauf hin, dass er auch in diesem Fall so handeln musste, wie es die Vorlage verlangte, nicht etwa, dass er sich zum Helden machen sollte, indem er von ihr abwich.
    Er hatte eine Armbrust und einen Pfeil.
    Musste er den Albatros wirklich vom Himmel schießen?
    Die Luft war kalt, und diesmal war es echte Kälte, die er fühlte. Seit er das Schiff betreten hatte, hatte sein Herz wieder zu schlagen begonnen. Wer oder was es angestoßen hatte, wusste er nicht. Die stinkende Decke, in die er sich nun hüllte, schützte ihn vor dem Gröbsten, doch falls er wieder in dieses eisige Wasser fallen würde, wie es zuvor passiert war, würde er es nicht überleben.
    Was war aus seiner Wette geworden? Die acht Wochen waren längst vorbei. War er tot? Lebte er? Was geschah mit ihm? War er dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit durch Literatur zu irren, wie der Fliegende Holländer über die sieben Weltmeere irrte?
    Die Mannschaft war riesig, wie er es vermutet hatte. Immer wieder neue Gesichter erschienen in seiner Nähe, sahen sich den Schiffbrüchigen an, den man geborgen hatte. Manche der Männer fassten ihn an, damit er ihnen Glück brachte, und obwohl es ihm zunächst unangenehm gewesen war, von ihren schmutzigen Finger berührt zu werden, zwang er sich dazu, es als Ehre zu sehen. Sie reichten ihm heißen Grog und Tee und ein deftiges Essen aus getrocknetem Fisch und Bohnen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, wieder Hunger zu haben, wieder zu essen und zu trinken, wieder die Wärme zu spüren, die die heiße Flüssigkeit und der Alkohol im Magen auslösten.
    Nach Stunden an Deck überkam ihn ein anderes Gefühl, das ihm ebenfalls fremd geworden war: Er spürte ein Gewicht auf sich lasten, das er zunächst nicht einordnen konnte. Seine Bewegungen wurden schleppender, wie das Kriechen einer altersschwachen Schildkröte, die Gedanken wälzten sich immer träger durch die Windungen seines Gehirns, und der Fokus seiner Wahrnehmungen schwappte hin und her, hin und her, von einem zum anderen, unfähig, sich an etwas festzuhalten.
    „Du siehst aus, als könntest du eine Mütze Schlaf vertragen“, meinte einer der Seeleute mit kratzigem, scheuerndem Lachen.
    Sir Darren, der vergessen hatte, wie sich Müdigkeit anfühlte, ließ sich unter Deck führen und auf eine der Schlafpritschen betten. Das Bettzeug war ein Haufen nach saurem Schweiß stinkender Lumpen, und er gab sich in den nächsten Stunden mehrmals Mühe, aus dem Stoffhaufen zu kriechen, doch Morpheus verabreichte ihm eine Injektion nach der anderen, drückte ihm hundert Anästhesien auf den Mund, schoss ihm immer wieder die Sehnen durch, ließ ihn zusammenklappen und zerrte ihn zurück auf das Brett.
    In der Nacht wurde es mehrmals hell und wieder dunkel, und als er sich wieder aufrappelte und an Deck stieg, musste er erst einen Zaun aus grinsenden Gesichtern überwinden. „Wie viel Uhr ist es?“, fragte er und streckte sein steifes Kreuz. „Wie lange habe ich geschlafen?“
    „Drei Tage“, antwortete einer der Seeleute. „Nicht mehr.“
    „Drei Ta-…?“ Graues Licht floss über das Schiff. Der Morgen brach an, hinter dem Horizont machte sich die Sonne bereit auf ihren nächsten Auftritt. Es war weniger kalt als zuvor.
    „Du hast wohl zum ersten Mal in deinem Leben richtigen Rum geschluckt, was?“ Ein Chor aus Gelächter erhob sich. „Du hast geratzt wie ein Toter.“
    „Und … der Albatros?“ Sir Darren warf einen großen, langen, weiten 270-Grad-Panorama-Blick über das Schiff. Nach oben sah er nicht. Dazu fehlte ihm der Mut. Der Schatten des Vogels war auf dem Deck kaum zu sehen, so schwach war das Licht der Morgendämmerung.
    „Der Albatros hat uns aus dem Eis geführt.“ Eine Stimme.
    „Aber der Nebel ist dichter geworden.“ Eine andere.
    „Scheiß auf den Nebel – der tut uns nichts. Bis nach Hause kannst du ohnehin nicht sehen.“
    Sir Darren ging nach unten und kramte im Halbdunkel herum, bis er gefunden hatte, was er suchte. Schwindelig und schwankend und mit dem merkwürdigen Zerren im Hals, das man manchmal hat, wenn man aus zu kurzem oder zu langem Schlaf erwacht, kehrte er an Deck zurück. Die Armbrust lag in seiner Hand, und er hatte den Pfeil eingelegt.
    Eine

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