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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Schmierenkomödiantin vorgetragen. Er wünschte sich ihre Seele für fünf Minuten hierher, an diesen Ort, in diese Zeit, wo immer sie sich auch befinden mochten.
    Die wohl bekannteste Strophe des „Ancient Mariner“ drängte sich ihm hartnäckig auf, bis er es aufgab, gegen sie anzukämpfen, und sie stattdessen mehrmals wie einen Bannspruch vor sich hin murmelte:
    „Day after day, day after day, we stuck, no breath or motion,
    As idle as a painted ship on a painted ocean.”
    (Tag für Tag, Tag für Tag, steckten wir fest, kein Hauch, keine Regung,
    so still wie ein Schiff auf einem gemalten Ozean.)
    Es war noch schlimmer: Es war wie eine begonnene Geschichte, bei der der Autor enttäuscht und kraftlos die Feder weggelegt hatte, weil ihm kein passendes Ende einfiel.
    Als der erste Tag der Windstille zur Neige ging, begannen die Seeleute über die Wasservorräte zu diskutieren. Am zweiten Tag gab es erste Kontroversen über das gleiche Thema, an den folgenden Tagen wurden handfeste Streitigkeiten daraus. Als die Vorräte erschöpft waren, war das beinahe eine Erleichterung, denn die Differenzen waren damit beigelegt, und die Seeleute ergaben sich mit einem Gefühl, das aus den beiden Quellen Kameradschaft und Verzweiflung gespeist wurde, in ihr Schicksal. Sie waren umgeben von Wasser – wohin sie sahen, nichts als Wasser, doch kein Tropfen davon trinkbar.
    Noch immer gab es keine Brise, nicht das geringste Lüftchen, und die ersten sprachen davon, dass der Ozean selbst auszutrocknen begann. Sir Darren, der im Voraus von dieser Entwicklung gewusst hatte, hatte es natürlich längst bemerkt: Es war ein Phänomen, das sich vielleicht nur ein drogenabhängiger Dichter ausdenken konnte, wie Coleridge einer gewesen war. Das Meer verfaulte. Es begann in der stickigen, dunklen Tiefe – man sah es an den Kadavern von großen Fischen, die an die Oberfläche stiegen, wo sie zerplatzten und ihre Gedärme über die Wasserfläche verteilten. Immer stärker dickte das Wasser auch an der Oberfläche ein und verwandelte sich in einen schlammigen Morast. In Schlieren trieb das ölige Gebräu dahin, und eine Art Lebewesen erhoben sich aus dem Schleim. Es waren keine Fische – sie hatten lange Beine wie Spinnen und krochen über das sumpfige Meer. Über das Wasser leckten grüne und blaue Flammen, Sumpfgase möglicherweise, die die gnadenlose Sonne entzündete und denen die Geschöpfe auszuweichen versuchten.
    Zunächst waren die Seeleute kaum davon abzuhalten, die albtraumhafte Szene in sich aufzusaugen, später, als ihr Verstand zu schmerzen begann, drehten sie der Außenwelt den Rücken zu und verkrochen sich in den Kajüten oder an schattigen Plätzen auf dem Deck. Viele von ihnen fielen in unregelmäßige Schlummer, am Tag wie in der Nacht, und wenn sie erwachten, berichteten sie mit glasigen Augen und erstaunlicher Übereinstimmung über die Träume, die sie gehabt hatten.
    Sie wollten etwas über den Geist erfahren haben, der sie quälte, der für all dies verantwortlich sei. Ihre Träume hatten ihnen erzählt, es handle sich um einen Dämon, der sie in neun Faden Tiefe begleitete – von dem Land aus Eis und Schnee im antarktischen Meer bis hierher.
    Erst jetzt fiel Sir Darren auf, woher er die Formulierung „Neun Faden tief“ kannte – natürlich aus dem „Ancient Mariner“.
    Die letzten Gespräche, die die Männer führen konnten, handelten von diesem Ungeheuer. Dann wurden ihre Zungen und Gaumen und Lippen so trocken, als hätten sie mit Ruß gegurgelt, und sie brachten kein Wort mehr hervor.
    Sir Darren saß im Schatten, den Rücken gegen eine große Holzkiste gelehnt. Seine Arme hingen kraftlos herab wie vertrocknete Wasserpflanzen. Er wartete, bis einer der Seemänner seine Kraft zusammennahm und sich aufraffte, das zu tun, was das Gedicht von ihm verlangte:
    Der Kerl kratzte den Kadaver des Albatros von den Planken, befestigte mit einer Schnur eine Schlinge daran und hängte dem Dozenten den Vogel um den Hals. Mit seinen abstehenden Flügeln erinnerte der Albatros an die Karikatur eines Kreuzes.
    Sir Darren trug den stinkenden Kadaver mit aller Würde, zu der er fähig war. Jetzt, da sie den Tod vor Augen hatten, gaben die Matrosen wieder Sir Darren die Schuld an ihrem Unglück, doch keiner von ihnen hatte noch die Kraft, um ihn mit dem Tod zu bestrafen. Keiner wagte es, den ersten Stein zu werfen. Stattdessen zeichneten sie ihn mit dem Symbol seines Vergehens.
    Vom Sündenbock war er zum Retter geworden, und

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