80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
Darren wusste, dass der Wind sich nicht legen würde, nachdem der Albatros getötet war. Er starrte an den Himmel und fand ihn nackt ohne den Vogel. Reue war nicht in ihm. Ein Schauspieler konnte keine Reue für die Verbrechen empfinden, die seine Figur beging. Alles was er empfinden konnte, war die Angst, einen Fehler gemacht zu haben, einen Schnitzer in der Gestik vielleicht, eine Ungenauigkeit, die seine wahre Absicht verdrehte, Anlass zu Fehlinterpretationen gab und das Publikum verwirrte. Genau diese Angst erfüllte ihn jetzt.
Sie und ein körperlicher Schmerz, so beißend wie der erste Frost nach einem langen Sommer. „Meine Schulter“, keuchte er.
Minutenlang bildeten die Seeleute einen Kreis um ihn. Sie redeten auf wenig schmeichelhafte Weise von ihm, doch keiner rührte ihn an, weder um ihm zu helfen, noch um ihm den Rest zu geben.
Dann kam die Sonne aus dem Meer hervor und breitete einen Teppich aus goldrotem Licht über die See und das Schiff. Die Matrosen traten zur Seite und ließen zu, dass der Teppich auch über Sir Darren ausgerollt wurde, und sie betrachteten ihn in diesem neuen Licht. Die Knöpfe seines Anzugs erstrahlten. Sogar der leidende Mann war schön in diesem himmlischen Licht. Die Gespräche verstummten.
„Der Nebel“, krächzte schließlich ein hagerer Kerl mit einem unordentlich geschnittenen Backenbart. „Er ist weg. Vielleicht hat der Albatros nicht den Wind gebracht, sondern den Nebel. Beide waren gleichzeitig da. Man kann es nicht sagen.“
„Man kann es nicht sagen“, echote ein zweiter. Dieser Mann beugte sich zu Sir Darren hinab und machte, dass er schrie. Aber er tat es, indem er ihm die Schulter mit einem entschlossenen Ruck wieder einrenkte, und als der Schweiß, den der Schmerz auf Sir Darrens Stirn getrieben hatte, verdunstet war, war mit ihm auch die schlimmste Pein vergangen.
Und er wusste, dass der nächste Akt des Dramas angefangen hatte.
„Zum Teufel, wir wären in dieser Suppe noch umgekommen, wenn er dem Spuk nicht ein Ende bereitet hätte. Atmet mal diese Luft.“
Die Luft war süß und beinahe mild, der Himmel füllte sich jetzt mit einem tiefen Blau, und es war, als hätte sich Gott selbst einen Moment Zeit genommen, nur um diese Ecke der Welt in diesen Minuten so perfekt wie möglich zu gestalten. Einige der Männer stimmten ein Lied an, zwei kräftige Burschen halfen dem Dozenten in einem Überschwang auf die Beine, dass er fürchten musste, sein Arm würde zum zweiten Mal dran glauben müssen, und einer von ihnen setzte ihn auf seine breiten Schultern, als wäre er ein Kind, und rannte heulend mit ihm über das Deck.
Die Brise trug das Schiff mit sich, und man bildete sich ein, die Luft würde sich mit jeder Minute weiter erwärmen. Die letzten Eisstücke in dem gewaltigen Cocktail namens Ozean trieben dem südlichen Horizont entgegen, und eine stille See erstreckte sich vor ihnen, weder gerührt noch geschüttelt, ein schläfriges, einlullendes Tuch, das die aufsteigende Sonne immer weiter erhitzte, bis es zu glühen schien.
Der Tag, der so ereignisreich mit einem Knall begonnen hatte, schien gegen Mittag an Effet zu verlieren, wie eine zu schwach angestoßene Billardkugel. Er lief aus, stockte, und es schien zweifelhaft, ob er den Abend jemals erreichen würde. Der Wind, in den sie eben noch all ihre Hoffnung gesetzt hatten, legte sich bis zur totalen Flaute, die Segel fielen schlaff herab, das Schiff stand, und die Sonne brannte sich am Zenit über dem Mast fest wie ein Spiegelei, das jemand in der Pfanne vergessen hatte.
Der Himmel war kupferrot, und die Welt erstarrte zu einer unirdischen Legierung.
Sir Darren stand am Bug und konzentrierte sich. Während er im letzten Teil seines Abenteuers bemüht gewesen war, sich an Details aus der Poe-Story zu erinnern, um sich besser darin zurechtzufinden, gingen seine Anstrengungen nun in die entgegengesetzte Richtung. Er tat alles, damit die nächsten Verse des verdammten Gedichts nicht den Weg in seinen Geist fanden. Er ertrug sie nicht, denn sie verhießen größeres Grauen als alles, was er bislang erlebt hatte. Geradezu unvorstellbar erschien es ihm jetzt, wie diese hässliche Ballade mit ihren ekelhaften Bildern die Jahrhunderte hatte überdauern können. Und noch unvorstellbarer war es, dass sich niemand in seiner Klasse hatte übergeben müssen, als sie sie damals als Kinder im Englischunterricht behandelt hatten. Seine Lehrerin hatte den Text mit dem übersteigerten Pathos einer
Weitere Kostenlose Bücher