900 Großmütter Band 1
zum mindesten kein Defizit; es regnete in jeder Viertelstunde etwa fünf Minuten lang, und unaufhörlich zuckten Blitze in allen Farben über den Himmel. Während der ganzen Zeit, in der sich die Expedition auf der Bellota befand, war ständig nahes oder fernes Donnergrollen zu vernehmen, und pausenlos blitzte es. Aus diesem Grunde konnte es auch nie ganz dunkel werden, auch nicht zwischen den einzelnen Blitzen. Denn zwischen denen wetterleuchtete es auch noch. Hier war konzentrierte Meteorologie, unverwässert, ohne Füllsel.
»Aber es ist immer anders«, sagte Georgina, »jeder Blitz leuchtet anders, so wie jede Schneeflocke anders als die anderen ist. Ob es hier auch schneit?«
»Sicher«, sagte Phelan, »es hat zwar gestern nacht nicht geschneit, aber heute nacht müßte es eigentlich schneien. Schnee vor Mitternacht und Nebel gegen Morgen. Schließlich liegt zwischen Mitternacht und Morgen nur eine Stunde.«
Zu diesem Zeitpunkt hatten sie erst ein paar Stunden auf der Bellota verbracht.
»Und hier ist der Zyklus normal, aber überall anderswo ist er nicht normal«, sagte Phelan. »Für Menschen und andere Lebewesen ist es naturgemäß, zwei Stunden zu schlafen und zwei Stunden wach zu sein; das ist der fundamentale Zyklus. Vieles von unserem Fehl verhalten und unserer allgemeinen Verkehrtheit ist auf diesen blöden Tag-Nacht-Rhythmus zurückzuführen, der zufällig auf dieser irren Welt besteht, in die wir hineingeboren sind. Hier werden wir innerhalb einer Woche zu der Normalität zurückkehren, die wir nie gekannt haben.«
»Innerhalb was für einer Woche?« fragte Hardy.
»Einer Bellota-Achtundzwanzig-Stunden-Woche. Und sind Sie sich darüber klar, daß die projektierte Arbeitswoche hier nur sechszweidrittel Stunden betragen würde? Ich war immer der Ansicht, daß mir so eine Arbeitswoche durchaus reichen würde.«
Es gab hier keine Meere, nur die Sodawasser-Seen, die insgesamt etwa ein Drittel der Oberfläche bedeckten. Tiere und Pflanzen waren hier völlig anders als auf der Erde oder einer ähnlichen Welt – eher ein Witz. Die Bäume waren weder Laub- noch Nadelbäume – wenn auch Carroll meinte, sie seien immergrün –, noch Palmen. Es waren Bäume, wie sie ein Karikaturist zeichnen würde. Und da waren Tiere, die die ganze Idee der Tierwelt ins Lächerliche zogen.
Und dann Schnoffel.
Schnoffel war möglicherweise eine Art Bär. Bären sind sowieso Karikaturen in der Tierwelt, irgendwas wie riesige Hunde, Zottelmänner, Oger – und dazu wie Spielzeug. Und Schnoffel war die Karikatur eines Bären.
Billy Cross versuchte, den anderen etwas über Bären zu erzählen. Billy war ein alter Bären-Mann.
»Der Bär ist das einzige Tier, von dem Kinder träumen, ohne es vom Sehen oder nach Beschreibungen zu kennen. Moncrief hat im Laufe seiner Tiefengedächtnisforschungen Tausende frühkindlicher Träume analysiert. Überall auf der ganzen Welt träumen Kinder von Bären. Tahitaner-Kinder, die selbst oder von ihren Vorfahren her nicht das Geringste von Bären wissen; australische Kinder; Stadt-Kinder, ehe sie überhaupt einen Spielzeug-Bären gesehen haben – alle träumen sie von Bären. Der Bär ist der Buhmann. Bären wohnen auf den Dachböden der alten Häuser unserer Kindheit. Das war bei mir so, und bei Tausenden anderen auch. Daß sie dort existieren, beruht aber nicht auf Suggestion durch Erwachsene, sondern auf angeborenem Kindheitswissen.
Doch dieser Buhmann hat einen doppelten Charakter. Er ist sowohl freundlich und faszinierend als auch furchterregend. Jedoch nicht alle Erwachsenen erzählen Kindern diese Buhmann-Geschichten. Es ist vielmehr die einzige Geschichte, welche Kinder denjenigen Erwachsenen erzählen, die sie vergessen haben.«
»Aber woher wollen Sie das wissen?« fragte Margie Cot. »Ich hatte keine Idee, daß kleine Jungen von Bären träumen. Ich hatte gemeint, nur kleine Mädchen tun das. Und ich für meine Person war davon überzeugt, daß die Bärenträume die fundamentalen Aspekte symbolisieren, die der erwachsene Mann für ein kleines Mädchen hat: Faszination und Furcht.«
»Für Sie, Margie, symbolisiert einfach alles den erwachsenen Mann in seinen fundamentalen Aspekten. Nun ist der Buhmann aber auch philologisch interessant, denn der Name geht tatsächlich auf eine von den knapp zweihundert indoeuropäischen Wortwurzeln zurück. ›Buh‹, auch ›Boh‹, ist eine Abschleifung von ›Bog‹, was zwar im Slawischen ›Gott‹ bedeutet; aber in archaischen Zeiten
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