99 Särge: Roman (German Edition)
Mao einst den Konfuzianismus denunziert hat«, sagte Chen.
»In unserem rätselhaften China ist nichts unmöglich. Erinnern Sie sich an das alte Sprichwort? Wer ernstlich krank ist, kann sich den Arzt nicht aussuchen – so ist das auch mit Konfuzius. Glauben Sie denn, dass eine Wiederbelebung der alten Idole dieses Land aus seiner ideologischen Krise retten kann?«
Sie hatte während dieses kritischen Kommentars die Augenbrauen hochgezogen. Er sah Humor in ihren Augen aufblitzen, und das gefiel ihm. Allmählich verglommen die Opfergaben in dem großen Bronzefass im Hof des Tempels.
15
Am Montagmorgen fand Oberinspektor Chen auf dem Schreibtisch zahlreiche Routineaufgaben vor. Immer wieder wurde er durch erwartete und unerwartete Telefonanrufe abgelenkt. Dennoch gelang es ihm, sich zwischendurch alle möglichen Szenarien im Fall Zhou auszudenken. Leider brachte ihn keines davon wirklich weiter.
Als Erster war Parteisekretär Li in der Leitung.
»Ich habe ja nichts dagegen, dass Sie die Umstände von Weis Unfall näher untersuchen. Er war ein guter Genosse. Aber die Bestimmungen sind eindeutig. Solange wir nicht beweisen können, dass er dienstlich an dieser Kreuzung unterwegs war, gibt es keine Zuwendung für die Witwe.«
Wenn Li hart bliebe, würde Chen wenig ausrichten können. Und er meinte auch zu wissen, warum der Parteisekretär sich stur stellte.
Als Nächstes erreichte ihn ein Anruf von Shan Xing, einem Journalisten der Wenhui , der sich mit Strafsachen beschäftigte. Er hatte von Weis Tod erfahren und wollte wissen, ob es Verbindungen zum Fall Zhou gab. Als Chen sich dazu nicht äußerte, begann der Journalist darüber zu spekulieren, warum ausgerechnet jetzt ein Ermittlerteam aus Peking in der Villa Moller abgestiegen war. Auch dazu gab Chen keine Auskunft.
Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, fuhr Chen den Computer hoch. Unter den eingegangenen Mails fand er auch eine von Lianping, der sie die Fotos von der Tempelzeremonie angehängt hatte. Ihre Botschaft war kurz und knapp: »Ich habe noch nicht entschieden, welches ich für den Zeitungsartikel verwenden will. Mein Chef ist mit der Idee einverstanden.«
Anstatt sich die Bilder anzusehen, schrieb Chen eine Mail an den Genossen Zhao in Peking. Chen hatte dem ehemaligen Generalsekretär der Zentralen Parteidisziplinarbehörde nicht wirklich etwas mitzuteilen, es war eher eines dieser respektvollen Schreiben, mit denen man sich nach längerer Zeit wieder in Erinnerung bringt. Darin erwähnte er den Fall Zhou nicht explizit, drückte jedoch sein Bedauern darüber aus, dass in der allmächtigen Parteienherrschaft die Korruption immer mehr zunehme. Nebenbei ließ er einfließen, dass eine Delegation aus Peking in der Villa Moller eingetroffen sei. Er konnte nur hoffen, dass der Genosse Zhao sich mit ein paar Andeutungen über den Machtkampf an der Spitze und über die Gründe für den Besuch aus der Hauptstadt bei ihm zurückmelden würde.
Als er die Mail eben absenden wollte, erhielt er zu seiner Verwunderung einen Anruf von Leutnant Sheng von der Staatssicherheit. Sheng war ein aus Peking entsandter Computerspezialist, dessen Ermittlungen in Shanghai offenbar festgefahren waren. Doch ging Sheng, was seine Arbeit betraf, nicht ins Detail; es war vielmehr jene Art von Anruf, mit der man ankündigte, dass man ihm Revier eines Kollegen tätig war. Konnten Shengs Anwesenheit beziehungsweise sein Anruf etwas mit dem Fall Zhou zu tun haben? Chen hakte nicht weiter nach. Die Staatssicherheit zählte nicht gerade zu seinen Freunden.
Kurz nach Mittag kam Yu mit einer braunen Papiertüte in Chens Büro. Sie enthielt jene Küchlein, die gestern auf dem Altar gelegen hatten.
»Peiqin behauptet, es sei Tradition, dass die Teilnehmer der Zeremonie anschließend etwas von den Speisen bekommen. Man nennt sie Herzenströster. In der Aufregung gestern haben wir ganz vergessen, sie zu verteilen. Peiqin möchte, dass du deiner Journalistenfreundin auch welche zukommen lässt.«
»Peiqin gibt wohl nie auf, was?«, bemerkte Chen. »Ich habe Lianping doch erst vor einer Woche getroffen – wie ein Autor eine Redakteurin trifft.«
»Ich wiederhole ja bloß, was meine Frau mir aufgetragen hat, Chef«, erwiderte Yu. »Die Kuchen schmecken jedenfalls nicht schlecht. Sie sind aus Klebreis. Du kannst sie so essen oder warm machen. Peiqin sagt, warm schmecken sie noch besser.«
Nachdem Yu gegangen war, nahm Chen eines der Küchlein aus der Tüte. Es hatte die Form eines
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