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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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sich ein Computerspiel der finalen Krise näherte.
    In seiner Mailbox fand er eine Nachricht von Lianping, die ihn an das Konzert am heutigen Abend erinnerte. Außerdem fragte sie, wie weit seine Gedichte aus der Perspektive eines einfachen Polizisten gediehen seien.
    Dann fiel ihm ein, dass er auch noch seinen Hotmail-Account abrufen könnte, den er während eines Besuchs in den Vereinigten Staaten eingerichtet hatte. Einige seiner ausländischen Freunde hatten sich beklagt, dass sie ihn über seine übliche Sina-Adresse nicht erreichen konnten. Meist vergaß er jedoch, seine Mailbox bei Hotmail zu überprüfen, aber jetzt hatte er Zeit.
    Es gelang ihm nicht, sich bei Hotmail einzuloggen. Ein Assistent kam ihm zu Hilfe, aber ebenfalls ohne Erfolg. Chen wollte schon aufgeben, als der Assistent sagte: »Versuchen Sie es mit dem da«, dabei deutete er auf einen anderen Rechner.
    Chen probierte es erneut. Dieser Computer schien sich zwar einzuwählen, arbeitete aber quälend langsam, und nach einer Weile gab Chen auf. Auch Recherchen über Google waren von diesem Gerät aus nicht möglich.
    Kopfschüttelnd ging er zurück auf das Sina-Konto und rief den Gedichtentwurf auf.
    Eine Absage zerknüllend / trete ich in meine Rolle zurück / in den Schatten mich umgebender Hochhäuser. / Der Fallbericht will einfach keinen Sinn ergeben, / und auch dem Glockenton, der über die Stadt tönt, entlocke ich keinen Hinweis. // Ich bin vom Grunde meines Herzens Polizist. / Einer, der in kleinen Gassen / und Nebenstraßen ermittelt, wie ich sie von früher kenne: / Ein zärtliches Liebespaar, / wie ein Scherenschnitt an einem Fenster, / ein Einsamer, der mit der Antenne seiner Zigarette / Botschaften in die Zukunft sendet, ein Mütterchen / mit gebundenen Füßen, das sich über den Nachttopf beugt / wie ein gebrochener Ast, ein Hausierer inmitten von Unrat / gleich einem Verdächtigen … Das Zeichen für ABRISS reißt mich aus meinen Gedanken, / nichts kann den Bulldozer mehr aufhalten. / Es ist nicht leicht, in dieser verschwindenden Welt / seine Runden zu drehen.
    Er fragte sich, ob das Gedicht nur auf ihr Insistieren hin entstanden war. Die Bilder waren nicht neu, aber die angenommene Rolle als Streifenpolizist bot einen passenden Rahmen für das, was er ausdrücken wollte. Er war noch nicht ganz zufrieden damit, aber mehr war ihm im Moment nicht möglich. Nachdem er es nochmals durchgelesen hatte, schickte er es als Attachment ab.
    Dabei bemerkte er, dass eine neue E-Mail von Peiqin eingegangen war. Sie hatte inzwischen ebenfalls Lianpings Fotos von der Tempelzeremonie erhalten.
    »Vielen Dank, Chef. Es war großartig, dass Du mit Deiner hübschen, talentierten Freundin zum Tempel gekommen bist. Ihre Fotos sind wunderbar und haben eine hohe Auflösung, man kann sie beliebig vergrößern. Auf einem der Bilder habe ich etwas entdeckt, das mir im Tempel nicht aufgefallen war – die Adresse der Pappmaché-Villa.«
    Chen öffnete daraufhin noch einmal Lianpings Anhang mit den Fotos. Auf dem besagten Foto ging die Pappmaché-Villa gerade in Flammen auf. Er vergrößerte das Bild und las die Adresse auf der Tür – Bingjiang Garden 123. Lianping hatte ihn bei der Zeremonie darauf hingewiesen. Eine der teuersten Wohnanlagen Shanghais, ein Symbol für Reichtum und gesellschaftlichen Status.
    Wie ein Funke flackerte plötzlich in seinem Kopf eine Idee auf. Konzentriert starrte er auf den Bildschirm. War da etwas, das er bisher übersehen hatte? Doch der Gedanke verflüchtigte sich, bevor er ihn zu fassen bekam. Der leere Bildschirm starrte zurück.
    Schließlich stand er auf.
    Ein junger Mann notierte neben dem Registereintrag, wie lange Chen den Computer Nummer 51 benutzt hatte, und errechnete dann die Benutzungsgebühr. Die Zeit, die Chen an dem anderen Rechner verbracht hatte, wurde ihm, wie er bemerkte, nicht berechnet und auch nicht notiert. Schließlich waren die Angestellten hier nicht von der Internetpolizei. Für sie bedeuteten die neuen Bestimmungen nur lästige Mehrarbeit, die ihren Profit keineswegs steigerte. Man konnte also nicht von ihnen verlangen, dass sie die Anweisungen allzu gewissenhaft befolgten. Chen legte eine Fünf-Yuan-Note auf den Tresen und bekam sein Wechselgeld.
    Er trat auf die Straße und begab sich zur Konzerthalle, wo er immer noch zwanzig Minuten zu früh anlangte. Die Halle war eine kühne Konstruktion aus Glas und Stahl. Von seinem Standpunkt aus konnte Chen im Inneren Teile der aufwendigen

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