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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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Silberhaar und Goldrandbrille, kam, auf ihren Bambusstock gestützt, herbeigehumpelt. »Es ist Peiqin und uns allen eine große Ehre, Sie heute bei uns zu haben«, wandte sie sich an Chen. »Ich habe Fotos von Ihnen in der Zeitung gesehen. Vielleicht könnte der Tempel auch ein Bild in seinem Newsletter …«
    Sie brauchte den Satz nicht zu vollenden, er wusste, worauf sie hinauswollte, und ihr Ansinnen erschien ihm anmaßend. Bislang hatte er sich nur im Zusammenhang mit seiner Arbeit für die Zeitung ablichten lassen. Hier nun sollte er den Parteisekretär geben, der eine buddhistische Feier mit seiner Anwesenheit beehrt.
    Doch Chen nickte knapp, zog sich ein wenig zurück, holte sein Handy aus der Tasche und wählte.
    »Haben Sie heute Mittag Zeit, Lianping?«
    »Ja, warum fragen Sie, Oberinspektor Chen?«
    »Ich bin gerade am Longhua-Tempel. Mein Partner, Hauptwachtmeister Yu, und seine Frau veranstalten hier eine buddhistische Zeremonie und ein Essen im Tempelrestaurant. Einige ihrer Verwandten hätten gern ein paar Aufnahmen für die Zeitung …«
    »Alles im Dienst der Gesichtspflege in diesem und im nächsten Leben, ich verstehe«, entgegnete sie und fügte dann etwas lauter hinzu: »Aber immerhin schaut eine Einladung zum Mittagessen dabei heraus. Ich kann Ihnen also nur danken, dass Sie an mich gedacht haben. In zwanzig Minuten bin ich da.«
    Yu und Peiqin, die wegen der Rezitationen der Mönche nur Teile des Telefongesprächs mitbekommen hatten, waren völlig verblüfft.
    Nach weniger als zwanzig Minuten tauchte Lianping auf und machte sich durch ein kleines Blitzlichtgewitter aus ihrer Kamera bemerkbar. Dann kam sie zu Chen und begrüßte ihn mit einer kurzen Umarmung, wobei ihre Wangen sich berührten. Sie trug zu diesem Anlass ein tief ausgeschnittenes schwarzes Kleid, hochhackige Schuhe und einen weißen Schal, außerdem hatte sie einen Presseausweis um den Hals hängen, der sie als Journalistin der Wenhui auswies.
    »Wenn der Oberinspektor mich ruft, bin ich da!«, sagte sie mit zuckersüßem Lächeln und schüttelte Peiqin und Yu die Hand, bevor sie sich den anderen zuwandte. »Ich arbeite für unsere Zeitung an einem Artikel über den Oberinspektor. Diese Fotos werden Teil der Reportage sein. Sie werden zeigen, dass er nicht nur ein hart arbeitender Polizeibeamter, sondern ein vielschichtiger Mensch ist. Die Bildunterschrift könnte lauten: ›Chen beim Kotau mit seinem Partner im Tempel – die menschliche Seite eines Parteifunktionärs.‹«
    Es klang plausibel, doch er bezweifelte, dass sie ein solches Foto in der Parteizeitung veröffentlichen würde.
    Während sich die Zeremonie ihrem Höhepunkt näherte, gelang es ihm, sich in eine Ecke zurückzuziehen, wohin Lianping ihm folgte und wo sie für einige Minuten ungestört waren. Die anderen ließen sie in Ruhe, nur ein paar zu spät Gekommene mussten dem Ehrengast vorgestellt werden.
    »Was, schätzen Sie, hat diese Veranstaltung wohl gekostet?«, fragte sie ihn flüsternd, als sie wieder allein waren.
    »Tausend Yuan?«
    »O nein, nach der Broschüre zu urteilen, die am Eingang ausliegt, beträgt allein die Raummiete schon zweitausend Yuan, die Zeremonie oder die roten Umschläge für die Mönche nicht mitgerechnet.«
    »Rote Umschläge für die Mönche?«
    »Kennen Sie denn das Sprichwort nicht? Ein alter Mönch rezitiert die Schriften, ohne mit dem Herzen bei der Sache zu sein. Wenn jemand so etwas dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr macht, ist das wohl die unvermeidliche Folge. Deshalb müssen rote Umschläge dafür sorgen, dass die Mönche wirklich bei der Sache sind.«
    Chen schätzte ihr sicheres Urteil und die ironische Art, mit der sie auf die Absurditäten der modernen Gesellschaft hinwies.
    »Ihre Anwesenheit gibt dem Ganzen zusätzliches Gewicht«, fuhr sie mit spöttischem Lächeln fort. »Sie tun den beiden einen großen Gefallen. Nebenbei bemerkt, jemand wie Zhou wäre hier ebenso willkommen gewesen – bevor er in Misskredit geriet. In unserer Gesellschaft spielen Beziehungen eine große Rolle – und geknüpft werden sie durch den Austausch von Gefälligkeiten.«
    Dieser sarkastische, aber durchaus ernstgemeinte Kommentar trieb Chen in die Defensive.
    »Yu ist mein Partner und Freund«, sagte er. »Ich würde an Ihrer Stelle nicht zu viel hineininterpretieren. Hier findet kein ›Austausch von Gefälligkeiten‹ statt.«
    »Ich weiß, dass es bei Ihnen beiden etwas anders ist, sonst wäre ich nicht hier, um Sie zu

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