99 Särge: Roman (German Edition)
Wandgestaltung mit emaillierten Keramikplatten sehen, die allein schon obszöne Summen gekostet haben musste.
Plötzlich bemerkte er, dass ein Auto neben ihm hielt und eine zarte Hand ihm aus dem Wagenfenster zuwinkte.
»Habe ich Sie lange warten lassen, Oberinspektor?«
»Aber nein.«
»Tut mir leid, der Verkehr war fürchterlich«, sagte Lianping. »Ich parke nur schnell den Wagen, gleich bin ich bei Ihnen.«
Fünf Minuten später sah er sie mit zwei Tickets in der Hand aus der Menge auf sich zukommen. Sie trug eine hellbeige Kaschmirjacke über einem trägerlosen weißen Seidenkleid. Ihre Füße zierten hochhackige silberne Sandaletten, in denen sie sich ganz selbstverständlich bewegte.
Lianping gehörte eindeutig einer anderen Generation an – den Kindern der Achtzigerjahre, wie man sie manchmal auch nannte. Der Begriff sagte weniger etwas über die Zeit aus, sondern eher über die Vorstellungen und Werte der in diesem Zeitraum Geborenen.
Als sie den Konzertsaal betraten und ihre Plätze einnahmen, wurde das Licht gedimmt. Das Singapore National Youth Orchestra würde Mahlers 5. Symphonie spielen. Chen hatte einiges über Mahler gelesen, aber normalerweise nahm er sich nicht die Zeit, Konzerte zu besuchen.
Hinter den Kulissen stimmten die Musiker ihre Instrumente. Lianping hatte sich in das Programmheft vertieft. Im Halbdunkel musste Chen an die Laufbahn denken, die er ursprünglich angestrebt hatte. Während seiner Studienzeit war er häufig in Konzerte und Museen gegangen, um die zehn verlorenen Jahre der Kulturrevolution nachzuholen. Doch dann war ihm die Stelle bei der Polizei zugewiesen worden. Mit halb geschlossenen Augen versuchte er, seinen Jugendtraum für einen flüchtigen Moment wieder aufleben zu lassen …
Als das Konzert begann, wandte er sich Lianping zu und sah ihr begeistertes Gesicht. Selbstvergessen hatte sie die Sandaletten abgestreift und wippte zum Rhythmus der Melodie mit dem nackten Fuß.
Auch er verlor sich in der Musik. Fragmentarische Zeilen kamen ihm in den Sinn, verwoben sich und führten ihn wie in einer Vision zu einem plötzlichen Verständnis dieser herrlichen Klänge.
Während der Pause gingen sie hinaus in das großartig erleuchtete Foyer, tranken Weißwein und unterhielten sich inmitten der Menge.
»Sie bekommen solche Karten umsonst?«
»Nicht die wirklich begehrten Karten. Die Preise in dieser neuen Konzerthalle sind enorm, deshalb ist sie fast nie ausverkauft. Also lässt man uns Journalisten umsonst ein. Und wenn es eine Besprechung in der Wenhui gibt, hat sich die Investition allemal gelohnt.«
»Sie müssen etwas darüber schreiben?«
»Eine kleine Notiz genügt schon, einen Abschnitt voller Klischees über die hervorragende Aufführung und das begeisterte Publikum. Manchmal muss ich nur das Datum und den Namen des Orchesters und der Stücke ändern. Nichts im Vergleich zu dem Gedicht, das Sie mir geschickt haben.«
»Dann haben Sie es also schon bekommen?«
»Ja, und es gefällt mir sehr. Nächste Woche werden wir es drucken.« Sie deutete auf ein Plakat. »Sehen Sie mal, ein Konzert mit Roten Liedern – auch nächste Woche.«
»Ja, die kommen wieder in Mode«, sagte er.
In letzter Zeit wurden die Leute dazu angehalten, die alten Revolutionslieder, besonders die aus der Kulturrevolution, wieder zu singen, als könnte dadurch die frühere Loyalität zur Partei wiederbelebt werden.
»Mir kommt das vor wie schwarze Magie«, sagte sie. »Genau wie während des Boxeraufstands. Da haben die Bauernsoldaten ›Keine Waffe kann uns verletzen‹ gesungen, bevor sie in den Kugelhagel rannten und ins Gras bissen.«
Es war ein schneidender Kommentar, der ihm eine Filmszene vor Augen führte, die er vor langer Zeit gesehen hatte. Doch in der Gegenwart stand Lianping so dicht neben ihm, dass der Duft ihres Parfüms seine Gedanken beflügelte.
»Ich habe eine Frage an Sie, Chen«, sagte sie. »In der klassischen chinesischen Lyrik fügt sich jede Silbe in ein vorgegebenes Melodieschema. Aber im freien Vers gibt es solche Schemata nicht. Wie können Sie bei dieser Art der Lyrik Musikalität erzeugen?«
»Eine interessante Frage.« Auch er hatte schon darüber nachgedacht, aber keine Antwort parat, die ihr erwartungsvoller Blick zu erhoffen schien. »Das moderne Chinesisch ist eine relativ junge Sprache, sie ringt noch um eine Form. Vielleicht wäre es in diesem Zusammenhang besser, von Rhythmus zu sprechen, dem entspräche auch die unterschiedliche Zeilenlänge.
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