99 Särge: Roman (German Edition)
fotografieren. Aber trotzdem, dieses Ritual sagt mir nichts. Philosophisch gesehen geht es im Buddhismus um die Eitelkeit als menschliche Leidenschaft, aber das hier ist ja geradezu ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Mehr für die Lebenden gedacht als für die Toten.«
»Wohl wahr. Ich habe vorhin versucht, mit dem Mönch da drüben ein Gespräch über den Unterschied zwischen der Lehre des Großen Fahrzeugs und des Kleinen Fahrzeugs zu führen, aber er hat mich so entgeistert angestarrt, als spräche ich eine ihm unverständliche Sprache.«
Ihre Unterhaltung wurde von Peiqin unterbrochen, die die Gäste zum Mittagessen in ein Restaurant auf der gegenüberliegenden Straßenseite einlud. Ein rotes Plakat am Eingang verkündete, dass das Essen der Yus in einem Nebenzimmer mit drei großen runden Tischen stattfinden werde.
Yu und Peiqin hatten alle Hände voll zu tun, jedem seinen Platz zuzuweisen. Lianping wurde neben Chen am Tisch mit den Ehrengästen plaziert, ein Arrangement, das Peiqin vermutlich nicht ohne Hintergedanken traf. Aber Chen hatte auch keineswegs etwas gegen diese Sitzordnung einzuwenden. Lianping strahlte und spielte die Rolle, die ihr die Gastgeberin zugedacht hatte.
»Die Krabben sind wunderbar frisch«, bemerkte sie, während sie mit grazilen Fingern ein großes Krustentier schälte und es in Chens Schale legte, ganz so, als wäre sie seine Freundin. Dabei flüsterte sie ihm zu: »Ich frage mich, warum das kein vegetarisches Essen ist.«
Peiqin, die ihrem Gast gerade Wein eingoss, hörte ihren Kommentar und erklärte: »Wir haben uns die Speisenkarte des Tempelrestaurants angesehen. Die verlangen zweihundertfünfzig Yuan pro Person für ein vegetarisches Buffet à la Häagen-Dazs: Iss, so viel du kannst.«
»Was hat das mit einer Tempelzeremonie zu tun?«, entfuhr es Chen.
»Ein solches Mahl muss teuer sein, damit die Gastgeber gut dastehen. Aber vegetarisches Essen ist nun mal nicht teuer, daher die Idee mit dem Buffet.«
»Ich finde, ihr habt euch richtig entschieden, Peiqin«, sagte er, während er sich mit den Stäbchen ein Stück dunkle Seegurke holte, die mit Austernsoße und Krabbenrogen geschmort war.
Der Klingelton eines Handys ertönte, und sofort kontrollierten alle ihre Mobiltelefone. Es war das von Lianping, doch sie warf nur einen Blick auf das Display, ohne den Anruf anzunehmen.
»Jemand hat mir gerade einen Miniblog geschickt«, sagte sie zu Chen gewandt.
»Einen Miniblog?«, fragte er erstaunt. Das glitschige Stück Seegurke entglitt ihm und fiel in das Schüsselchen mit der Soße.
»Das ist genau wie ein Blog, nur dass die Beiträge auf hundertvierzig Zeichen beschränkt sind. Auf diese Weise hofft die Zensur, den Schaden, den ein solcher Text anrichten kann, zu begrenzen. Aber wie in einem Web-Forum können die Leute ihn lesen oder kommentieren und blitzschnell per Handy weiterschicken. Daher sind sie zu einem weiteren Ärgernis für die Hüter unserer ›harmonischen Gesellschaft‹ geworden. Angeblich soll es demnächst eine Bestimmung geben, wonach sich Miniblogger unter ihrem richtigen Namen einloggen müssen.«
»Damit die Netzpolizei sie leichter finden kann«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Schreiben Sie auch solche Miniblogs?«
»Nein, aber ich lese die von andern.« Sie lehnte sich zu ihm herüber und sagte mit gedämpfter Stimme: »Übrigens habe ich Erkundigungen über Melong eingezogen. Sein Web-Forum ist eines der populärsten in der Stadt. Deshalb kann er viele Werbeanzeigen schalten und arbeitet mit Profit. Melong ist ein interessanter Typ. Er schafft es immer wieder, kontroverse Themen in sein Forum aufzunehmen, dabei jedoch niemals die rote Linie zu überschreiten, was eine sofortige Schließung des Forums zur Folge hätte. Er ist ein alter Hase, der die direkte Konfrontation meidet, aber sein Forum trotzdem nach eigenen Vorstellungen leitet.«
»Dann ist er also in gewisser Weise unabhängig.«
»Gewissermaßen ja. Zumindest so weit, dass er keiner anderen Arbeit nachgehen muss, manchmal betätigt er sich auch als Hacker. Es kursieren Gerüchte, dass er damit viel Geld verdient, aber wer weiß das schon genau. Jedenfalls ist er vorsichtig. Ich habe noch nie gehört, dass er Schwierigkeiten bekommen hätte. In den einschlägigen Kreisen ist er bekannt für sein jianghu …«
»Sie meinen, er hat seine eigenen moralischen Prinzipien, so wie die Recken in den Kung-Fu-Romanen?«
»Ja, er handelt nach bestimmten Richtlinien. Es gibt Dinge, die er tut,
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