99 Särge: Roman (German Edition)
getrennten Teekannen aufgoss. »Die kleinen Gerichte gehen aufs Haus. Eine Auswahl finden Sie ebenfalls in der Karte.«
»Zunächst einmal nur Tee«, sagte Chen. »Wenn wir noch Wünsche haben, melden wir uns.«
Als sie allein waren, nahm Chen den Faden wieder auf. »Sie hatten gerade Ihr Web-Forum erwähnt, Melong.«
»Ja. Damit ein Forum wie dieses überleben kann, sind zwei Dinge nötig«, begann Melong. Er vermutete, dass dies die Information war, wegen der sich Chen bei ihm gemeldet hatte. Und es verwunderte ihn nicht. Chen war praktisch die Nummer eins bei der städtischen Polizei. Wenn er mit dem Fall Zhou betraut war, musste er sich auch über die Situation im Cyberspace informieren. Nachdem Melong sich schon mit den Netzpolizisten angelegt hatte, wäre es unklug, sich einen weiteren prominenten Feind bei den Ermittlungsbehörden zu machen. »Zum einen braucht man die Erlaubnis der Regierung und zum anderen populäre Inhalte. Über den ersten Punkt gibt es nicht viel zu sagen. Eine ›harmonische Gesellschaft‹ – darauf läuft alles hinaus. Andererseits kann ein Forum nur existieren, wenn es von vielen Benutzern besucht wird. Die Anzahl der Klicks entscheidet über die Attraktivität bei den Anzeigenkunden, und mit den Einnahmen aus der Werbung finanziert man die Unkosten.«
»Verstehe. Eine konkrete Frage: Warum dieser Rummel um die Sache mit den 95 Supreme Majesty?«
»Lassen Sie mich eines vorausschicken, Oberinspektor Chen. Eine solche Menschenfleischsuche geht nicht notwendigerweise von einem Web-Forum aus. Man kann Artikel oder Fotos auch frei online stellen, und solange die Netzbürger sich nicht dafür interessieren, passiert auch nichts.«
»Das stimmt.«
»Als ich das Bild eingestellt habe, konnte ich nicht ahnen, welche Reaktion es auslösen würde.«
Das hatte er den Netzpolizisten auch erzählt, dabei aber geflissentlich verschwiegen, dass er selbst die Netzbürger zu Erwiderungen aufgefordert und damit die Massenermittlung erst so richtig angeheizt hatte. Aber Melong konnte keine Veränderung in der Miene des Oberinspektors feststellen. Angeblich war Chen einer der wenigen Polizisten mit Prinzipien, sonst hätte Lianping ihn wohl auch nicht hergeschickt.
»Die Menschenfleischsuche ist natürlich nicht das ideale Mittel – zumindest nicht in einer idealen Gesellschaft«, fuhr Melong fort. »Aber was können die Menschen sonst schon tun? Entgegen allem Gerede verfügen wir nicht wirklich über ein funktionierendes Rechtssystem …« Hier unterbrach sich Melong. Immerhin saß ihm ein Staatsdiener gegenüber, ganz gleich, wie unorthodox er sein mochte.
»Ebenso wenig wie über eine freie Presse«, ergänzte Chen und nickte. »Deshalb hat sich das Internet zu einer notwendigen Alternative entwickelt, ein Ort, wo die Leute ihren Frust abreagieren können.«
»Sie sagen es, Oberinspektor Chen. Einer der Netzpolizisten hat mir gegenüber dasselbe erklärt, dabei allerdings betont, dass es ein kontrolliertes Abreagieren sein muss und die Netzpolizei als Kontrollorgan fungiert. Glauben Sie ja nicht, dass man im Cyberspace anonym oder unsichtbar bleiben oder äußern kann, was man will, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Keinesfalls. Dank moderner Technologie können die Inhalte nicht nur nach Reizwörtern durchsucht werden; im Namen einer ›harmonischen Gesellschaft‹ werden ganze Websites blockiert oder gelöscht, und alle Beiträger können von der Regierung ausfindig gemacht werden.«
»Ja, das ist mir bewusst«, entgegnete Chen langsam und nahm einen Schluck von seinem Tee. »Es heißt, bei der Menschenfleischsuche hätten die Netzbürger die Rolle der Journalisten übernommen. Aber können Sie sich dergleichen in einer Zeitung wie der Wenhui vorstellen? Andere vergleichen die Netzbürger mit einem Mob ohne Moral und soziales Gewissen. Aber wer hat das Recht zu definieren, was soziale Verantwortung bedeutet? Jedenfalls sieht man an solchen Internetaktionen, dass die Leute keine andere Möglichkeit haben, für Gerechtigkeit einzutreten oder ihre Meinung zu äußern.«
Melong war ganz verwirrt von Chens verbalem Ausbruch. Er selbst wollte sich lieber bedeckt halten, schließlich konnte das Ganze eine Falle sein.
»So viele Leute beteiligen sich an solchen Recherchen«, fuhr Chen unbeirrt fort. »Man fühlt sich an den alten Spruch erinnert: Wo zu viele mitmischen, kann das Gesetz nicht strafen .« Und nach einer Pause sagte er: »Können Sie mir vielleicht genauer erklären,
Weitere Kostenlose Bücher