99 Särge: Roman (German Edition)
ein Bett im Ostchina zu bekommen, aber trotzdem muss ich Sie darum bitten.«
Melong konnte Doktor Hous Erwiderung nicht hören, aber gleich darauf sprach wieder der Oberinspektor.
»Haben Sie vielen Dank, Doktor Hou. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«
Wieder entgegnete Doktor Hou etwas, aber Chen schnitt ihm das Wort ab: »Na gut, dann sind wir jetzt quitt. Reden wir nicht mehr davon.«
Das klang nach einem Aufrechnen von Gefälligkeiten, doch Chen wandte sich bereits an Melong.
»Doktor Hou wird Ihre Mutter gleich morgen früh einweisen. Und machen Sie sich keine Sorgen, er kümmert sich um alles.«
Melong stand auf und verbeugte sich tief. »Eine so große Schuld kann ich in diesem Leben nicht zurückzahlen, wie es in den Kung-Fu-Romanen immer heißt, aber im nächsten werde ich ein Pferd oder ein Ochse sein, der für Sie arbeitet.«
»So dürfen Sie nicht reden, Melong. Aber ich bin auch ein Fan von Kung-Fu-Romanen, also in diesem Sinne: Die grünen Berge und blauen Wasser werden überdauern, und unsere Wege werden sich kreuzen. «
Eine schlagfertige Erwiderung, die Melong zu schätzen wusste.
»Ich muss jetzt gehen; es gibt noch viel vorzubereiten, wenn sie morgen eingeliefert wird. Als Sohn, Sie verstehen schon …«, sagte Melong. »Aber ich verspreche, dass ich Sie sofort anrufe, wenn ich etwas herausgefunden habe.«
17
Als Oberinspektor Chen das Präsidium verließ, dämmerte es bereits. Er war tief in Gedanken versunken.
Manchmal half ihm das Gehen beim Denken, besonders wenn er gleichzeitig in verschiedene Richtungen dachte. Ein englisches Gedicht fiel ihm ein, das er vor vielen Jahren an der Universität gelesen hatte. Ein Dichter konnte es sich leisten, über einen Weg zu spekulieren, den er im gelben Herbstwald nicht eingeschlagen hatte, ein Polizist hingegen nicht .
Nach einer weiteren Routinesitzung im Präsidium hatte er den ganzen Nachmittag versucht, den Ermittlungen eine neue Wendung zu geben.
Da war zunächst die Frage, was Zhou in den letzten Tagen seines Lebens getan hatte. Doch solche Spekulationen gab Chen bald wieder auf. Vielleicht waren die Zigaretten ja nur der Auslöser. Vielleicht war Zhou schon vorher in etwas verstrickt gewesen. Die Anwesenheit der Stadtregierung im Hotel schien darauf hinzuweisen. Dann überlegte er, wie Hauptwachtmeister Wei wohl seinen letzten Tag verbracht hatte. Chen telefonierte überall herum, doch es konnte seine Zeit dauern, bis nützliche Hinweise eingingen.
Außerdem grübelte Chen darüber nach, wieso das Ermittlerteam aus Peking in die Villa Moller geschickt worden war. Sein Gewährsmann, der Genosse Zhao, hatte sich noch nicht gemeldet. Es kursierten allerlei Gerüchte, doch keines hielt einer genaueren Prüfung stand.
Schließlich war er so erschöpft, dass er beschloss, Feierabend zu machen und seine Mutter zu besuchen. Sie war inzwischen wieder allein zu Hause und hatte nur stundenweise eine Haushaltshilfe, die kaum Shanghai-Dialekt sprach.
Er hatte nicht auf den Weg geachtet und fand sich plötzlich in der Yunnan Lu wieder, einer Straße, die er noch aus den Tagen kannte, als er bei seiner Mutter gewohnt hatte. Damals war die Gegend bekannt gewesen für ihre billigen Imbissstuben, die eine Vielzahl köstlicher Spezialitäten anboten. Magisch angezogen von den unterschiedlichsten Düften, kam ihm die Idee, seiner Mutter ein paar Gerichte mitzubringen.
Inzwischen sprach man von der Yunnan Lu als einer »Gourmet-Meile«. Statt der alten Hütten gab es jetzt Hochhäuser, in deren untere Etagen Nobelrestaurants eingezogen waren. Eben kam er am Shenjiamen vorbei, einem neuen Lokal, das Bassins und Behälter in allen Farben und Größen vor der Tür stehen hatte. Neugierig mischte er sich unter die Schaulustigen und potenziellen Kunden und betrachtete fasziniert die sich windenden Tintenfische, blubbernden Muscheln, wimmelnden Forellen, hüpfenden Frösche und krauchenden Krebse – sie wirkten, als befänden sie sich noch in ihrem heimischen Element und nicht in Behältern, in die schlangengleiche Schläuche sprudelnd lebenswichtigen Sauerstoff pumpten. Eine junge Mutter blickte auf den kleinen Sohn an ihrer Hand hinab, das Gesicht angestrahlt von einem Neonschild über ihr: Separees, elegante Ausstattung. Plötzlich klingelte Chens Handy und riss ihn aus seiner Träumerei. Es war Jiang von der Stadtregierung.
»Fang ist verschwunden.«
»Fang?«
»Zhous Sekretärin. Niemand weiß, wo sie ist, nicht einmal ihre Eltern.«
»Ich habe sie
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