99 Särge: Roman (German Edition)
Die freie Lyrik ist also weder gänzlich frei noch ohne Reim oder Rhythmus.«
Diese Frau gab ihm wirklich Rätsel auf. Im einen Moment erschien sie ihm so jung und modisch, im nächsten zeigte sie sich gebildet und voller Einsicht, was seine Wertschätzung für sie nur noch steigerte.
In diesem Augenblick rief das Glockenzeichen zum zweiten Teil des Konzerts.
»Ach, beinahe hätte ich es vergessen«, sagte sie und reichte ihm eine kleine Karte. »Hier.«
Melongs Name und Telefonnummer standen darauf.
»Danke, dass Sie daran gedacht haben, Lianping. Aber Sie haben mir seine Telefonnummer doch schon im Restaurant aufgeschrieben.«
»Er ändert sie alle zwei, drei Monate. Nur Leute die ihm wirklich nahestehen, werden auf dem Laufenden gehalten«, erklärte sie und leerte ihr Glas, dann hakte sie sich ganz selbstverständlich bei ihm unter.
Sie suchten ihre Plätze auf, und der zweite Teil des Programms begann. Während die Musik ihrem Höhepunkt zustrebte, spürte Chen, wie Lianping den Atem anhielt und sich an ihn lehnte. Selbst als der letzte Ton verklungen war, schien sie noch ganz in der Musik versunken und klatschte länger als die meisten anderen Konzertbesucher.
In der Menge verließen sie die Halle. Draußen empfing sie eine angenehme Brise, die Lianping eine Haarsträhne ins Gesicht wehte. Die Außenwelt schien plötzlich von Lärm erfüllt.
»Vielen Dank, das war ein wunderbarer Abend«, sagte er.
»Ganz meinerseits. Ich bin froh, dass es Ihnen gefallen hat.«
Er hielt nach einem Taxi Ausschau. Jetzt, wo alle Konzertbesucher nach Hause wollten, würde es nicht leicht sein, eines zu ergattern.
»Sie sind nicht mit dem Auto da?«
»Nein, ich besitze gar keines.«
»Aber Sie können einen Dienstwagen nehmen.«
»Nicht für ein Konzert – noch dazu in Begleitung einer hübschen jungen Journalistin.«
»Sehen Sie sich nur die Schlange am Taxistand an, Genosse Oberinspektor Chen. Da können Sie leicht eine halbe Stunde stehen. Ich bringe Sie nach Hause. Warten Sie hier auf mich.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, verschwand sie und tauchte bald darauf in einem silbernen Volvo wieder auf. Der Markenname war geschickt ins Chinesische übertragen worden: Fuhao bedeutete so viel wie »reich und erfolgreich«. Sie öffnete ihm die Beifahrertür. Der Wagen war nagelneu und sogar mit GPS ausgestattet, was in einer expandierenden Gegend wie Pudong besonders hilfreich war.
Sie manövrierte das Auto souverän durch den dichten Verkehr. Draußen schimmerten Neonlichter in der Nacht, und er betrachtete deren Spiel auf ihrem Gesicht, als sie sich ihm kurz zuwandte. Sie drückte auf einen Knopf, und lautlos glitt das Schiebedach auf. Jetzt konkurrierte ihr Lächeln mit dem der Sterne. Plötzlich drängte sich ihm das Gefühl auf, diese Stadt würde den jungen und energiegeladenen Frauen ihrer Generation gehören.
Lianping begann, ihm Bruchstücke aus ihrem Leben zu erzählen. Sie war in Anhui zur Welt gekommen, wo ihr Vater eine kleine Fabrik leitete. Wie viele Nicht-Shanghaier wünschte sich ihr Vater, dass, wenn schon nicht er, so doch seine Tochter in dieser Stadt leben und arbeiten könnte. Zu seiner großen Freude bekam sie nach ihrem Abschluss an der Fudan-Universität eine Stelle bei der Wenhui und machte dort Karriere als Wirtschaftsjournalistin.
»Und Sie sind sogar Ressortleiterin, wie ich Ihrer Visitenkarte entnommen habe«, kommentierte Chen, während sie einen Schluck aus einer Wasserflasche nahm.
»Na und? Das bedeutet nur, dass man die Vertrauensperson des Parteisekretärs ist, allerdings mit einem Bonus von monatlich tausend Yuan.«
»Aber das ist doch fantastisch.«
»Es bedeutet aber auch, dass man seine Artikel gemäß der Parteilinie zu schreiben hat«, fuhr sie fort, während der Wagen einen abrupten Schwenk machte. »Sehen Sie das neue Restaurant da rechts? Glaubt man dem Gastronomie-Forum im Internet, dann ist es ein beliebter Treffpunkt für Liebespaare. Innen ist es so dunkel wie in einem Kokon, die jungen Leute sehen nicht einmal das Essen, das vor ihnen steht. Sie müssen sich alles ertasten.«
Sie hatte eine Art die Themen zu wechseln, die ihn an einen Spatz erinnerte, der durchs Geäst hüpft. Dabei bewies sie eine erstaunliche Kenntnis des jungen, schicken Shanghai.
» Alt bin ich geworden …«
»Wie meinen Sie das, Oberinspektor Chen?«
»Ach, nur eine Gedichtzeile, die mir gerade einfiel.«
»Also bitte, Sie sind der jüngste Oberinspektor des ganzen Landes«, sagte sie
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