99 Särge: Roman (German Edition)
und tätschelte seine Hand. »Ich habe über Sie im Internet recherchiert.«
Als der Wagen im verstopften Tunnel nach Puxi langsamer fahren musste, fragte er, wo sie wohne.
»Nicht weit von der Great World. Mein Vater ist Geschäftsmann und hat für mich die Anzahlung eines Apartments in dem Gebäude mit dem goldenen ›Ruikang‹-Logo übernommen. So eine Wohnung ist eine gute Investition, ihr Wert hat sich innerhalb von nur drei Jahren bereits vervierfacht.«
»Ganz in der Nähe wohnt meine Mutter.«
»Ach, wirklich! Wenn Sie sie das nächste Mal besuchen, müssen Sie unbedingt bei mir vorbeischauen. Meine Kaffeemaschine ist der letzte Schrei«, erklärte sie scherzhaft, während sie vor Chens Wohnblock unweit der Wuxing Lu anhielt.
Sie stieg ebenfalls aus und sah ihn aus strahlenden Augen an. Die Nacht war verführerisch warm.
»Haben Sie vielen Dank, ich habe den Abend wirklich genossen. Nicht nur die Musik, auch unser Gespräch«, sagte Chen und fügte dann unbeholfen hinzu. »Es ist spät, und bei mir ist nicht aufgeräumt. Vielleicht ein andermal …«
»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, entgegnete sie lächelnd und stieg wieder in den Wagen.
Er blieb stehen, während sie wendete, und sah dem Auto nach, bis es in der Nacht verschwand.
Was die Ermittlungen betraf, war der Abend wenig ergiebig gewesen. Doch Chen beruhigte sein Gewissen mit dem Besuch im Internetcafé, den Fotos von Peiqin und den neuen Informationen, die er über Melong erhalten hatte. Etwas schien sich zusammenzufügen, nur war ihm noch nicht klar, was es war …
Allein in der Stille der Nacht würde er die Antwort schon finden.
Plötzlich wusste er, an wen ihn Lianping erinnerte, an eine Figur aus einem französischen Roman, den er vor kurzem gelesen hatte – Rameaus Neffe von Denis Diderot.
Schon wieder war er dabei abzuschweifen.
16
Melong saß allein in seinem Arbeitszimmer und goss sich bereits die dritte Tasse Pu-Erh-Tee an diesem Morgen auf. Abwechselnd legte er die Füße auf den Tisch und nahm sie wieder herunter. Er fühlte sich wie ein gefangenes Tier.
Erweise den Geistern und Dämonen Respekt, aber lasse sie nicht an dich heran , mit dieser konfuzianischen Maxime war er bisher im Umgang mit der Polizei oder der Netzpolizei, ja sogar mit der Staatssicherheit und der Stadtregierung immer gut gefahren. Doch diesmal hatte er es offenbar am nötigen »Respekt« fehlen lassen. Die durch das Foto mit den Zigaretten der Marke 95 Supreme Majesty ausgelöste Massenermittlung hatte ihm eine Menge unangenehmer Nachfragen durch die Behörden eingebracht. Die Reaktionen auf die Veröffentlichung des Bildes waren nicht überraschend gekommen, wohl aber die weitere Entwicklung, für die er sich keineswegs verantwortlich fühlte.
Wie jeder Betreiber eines Netzforums lockte er durch kontroverse Themen Leser an. Was er den Netzpolizisten natürlich nicht auf die Nase gebunden hatte, war seine tiefe Befriedigung darüber, einen weiteren korrupten Beamten zu Fall gebracht und der »stets korrekten und unfehlbaren Partei« eins ausgewischt zu haben.
Was er ihnen hingegen erzählt hatte, entsprach durchaus der Wahrheit. Er hatte tatsächlich keine Ahnung, wer ihm das Foto geschickt hatte. Die IP -Adresse ließ sich zwar auf einen Computer zurückführen, doch der stand in einem Internetcafé. Die Netzpolizei schien zu ähnlichen Ergebnissen gekommen zu sein. Damit hätte die Sache eigentlich erledigt sein müssen.
War sie aber nicht. Nicht für die Netzpolizei, die jetzt mit der Verschwörungstheorie daherkam, er, Melong, sei irgendwie in den Computer dieses Zhou eingedrungen und hätte das Foto dort heruntergeladen, um sich dann die Geschichte mit dem anonymen Netzbürger auszudenken, der ihm das Bild aus einem anonymen Internetcafé zugeschickt habe. Da sie um seine gelegentlichen Aktivitäten als Hacker wussten, kam ihnen ein solches Szenario durchaus plausibel vor. Zumal die Aufschrift auf der Zigarettenschachtel viel zu klein war, als dass normale Netzbürger die Schrift hätten entziffern können.
Damit wollten sie ihn drankriegen, auch wenn sie nicht wirklich von seiner Schuld überzeugt waren. Es ging dabei gar nicht um seine Aktivitäten als Hacker, sondern einzig und allein darum, dass sein Web-Forum der Partei ein Dorn im Auge war. Endlich bot sich ihnen eine Möglichkeit, sein Forum mit angeblich legalen Mitteln zu schließen.
Im Moment war die Netzpolizei noch mit der Suche nach weiteren Indizien beschäftigt, aber es
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