99 Särge: Roman (German Edition)
wie Sie das Bild bekommen und was Sie damit gemacht haben?«
Aha, jetzt kam es. Aber Melong war vorbereitet.
»Das habe ich alles schon der Netzpolizei erzählt. Aber für Sie werde ich es noch einmal wiederholen. Ich bekam eine E-Mail mit dem Foto im Anhang. Die Botschaft lautete schlicht: ›Dieses Bild erschien am Freitag in der Befreiung , der Wenhui und andern regierungsnahen Blättern. Seht euch die Zigarettenschachtel an, die vor Zhou, dem Direktor der Städtischen Wohnungsbaubehörde, auf dem Tisch liegt. Welche Marke ist es? 95 Supreme Majesty. Glaubt jemand im Ernst, ein unbestechlicher Kader, der von ganzem Herzen für die Partei arbeitet, könnte sich so etwas leisten?‹
Nun ist es ja keine Seltenheit, dass man höhere Beamte solche teuren Marken rauchen sieht. Aber aus reiner Neugierde habe ich am Freitag in der Zeitung nachgesehen, und da war tatsächlich dieses Bild abgedruckt. Ein schlauer Schachzug. Normalerweise stellen wir nichts ins Netz, ohne die Identität der Quelle zu kennen. Aber diesmal handelte es sich um ein Foto, das in mehreren offiziellen Zeitungen veröffentlicht worden war, demnach brauchten wir uns um die Authentizität keine Sorgen zu machen. Also habe ich das Bild eingestellt, mit dem Text aus der E-Mail darunter. Was danach geschah, wissen Sie ja.«
»Und daraufhin hatten Sie die Netzpolizei im Haus?«
»Ja, und nicht nur die. Die Leute von der Stadtregierung waren sogar noch früher da, eine Gruppe unter Leitung eines gewissen Jiang. Dazu noch die Staatssicherheit. Auf deren Geheiß habe ich die originale E-Mail herausgesucht. Aus der IP -Adresse war ersichtlich, dass sie in einem Internetcafé, gar nicht weit von hier, abgeschickt worden war. Das ist alles.« Melong nahm einen großen Schluck von seinem Tee und fuhr dann fort. »Sie wollten, dass ich ihnen bei der Suche nach dem anonymen Absender helfe. Aber was kann ich denen schon nützen? Die haben doch ganz andere Experten an der Hand.«
Melong verlor kein Wort über das, was die Netzpolizei ihm angedroht hatte. Warum auch? Der Oberinspektor konnte sich ohnehin nicht auf seine Seite stellen.
»Ja, das ist wirklich deren Sache. Schließlich sind sie die Aufpasser im Netz.«
Der Sarkasmus in Chens Äußerung war nicht zu überhören. Dennoch tastete Melong im Dunkeln, was die Intention des Oberinspektors betraf. Er würde sich besser zurückhalten, bis dieser seine Karten auf den Tisch gelegt hatte.
»Meinen Sie?«
»Es ist bestimmt nicht einfach, ein Forum wie das Ihre zu verwalten. Aber Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag für die Allgemeinheit. Es bietet eine alternative Informationsquelle. Dort erfahren die Leute, was in unserer sozialistischen Gesellschaft chinesischer Prägung vorgeht, und können ihre Kommentare dazu abgeben – trotz aller Widrigkeiten.«
»Danke, Oberinspektor Chen. Sie sind, wie ich mir vorstellen kann, auch nicht gerade in einer beneidenswerten Lage. Auf Ihren Schultern liegt eine große Verantwortung.«
»Das können Sie laut sagen.« Chen gab seinem Gegenüber Feuer und zündete sich dann selbst eine Zigarette an. Beide sahen einen Moment lang schweigend den Rauchkringeln nach. »Der Fall, an dem ich gerade arbeite, ist nur eine weitere harte Nuss. Ich habe mich ganz auf die Umstände von Zhous Tod konzentriert, doch bevor ich zu einer schlüssigen Theorie kommen konnte, ist mein Kollege, Hauptwachtmeister Wei, bei einem dubiosen Unfall ums Leben gekommen. Ich fühle mich für seinen Tod mitverantwortlich. Möglicherweise war er einem wichtigen Hinweis auf der Spur, aber ich war an jenem Morgen zu beschäftigt, um mit ihm darüber zu sprechen. Ich habe ihn nicht vor den Risiken gewarnt, die mit solchen Ermittlungen verbunden sein können.«
Langsam begriff Melong, warum der Oberinspektor sich die Mühe gemacht hatte, ihn zu treffen. Er sann auf Rache, und in seiner Verzweiflung war er auf Melong verfallen. Aber wenn er meinte, Melong hätte Zhous Computer gehackt, dann war er genauso auf dem Holzweg wie die Netzpolizei.
»Die Sache ist auch deshalb kompliziert, weil so viele Ermittler involviert sind, von denen einige schon vor uns am Tatort waren. Das shuanggui gegen Zhou wurde eine Woche vor seinem Tod verhängt, und sie haben seinen Computer und alle Daten beschlagnahmt. Was mir an Informationen vorliegt, ist aus zweiter Hand und vorzensiert.«
»Dasselbe haben mir die Netzpolizisten erzählt«, bemerkte Melong vorsichtig. »Angeblich war die Festplatte bereits vor ihrer
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