99 Särge: Roman (German Edition)
eingeladen, und zufällig habe ich auch noch etwas anderes hier zu erledigen.«
»Kann ich dem Shanghaier Präsidium irgendwie behilflich sein?« Tang kam direkt zur Sache.
»Danke, aber diesmal komme ich nicht als Polizist. Deshalb werde ich Ihre Dienststelle nicht offiziell kontaktieren. Dennoch muss ich Sie um einen Gefallen bitten.«
»Freut mich, dass Sie an mich gedacht haben. Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Sie haben noch etwas gut bei mir. Wenn damals dieser Betonkopf von einem Parteisekretär …«
»Lassen wir Li aus dem Spiel. Vielleicht haben Sie schon von dem Fall Zhou gehört – die Sache mit den Zigaretten der Marke 95 Supreme Majesty und deren Folgen. Ich bin eigentlich nicht direkt damit befasst, trotzdem hat der Fall eine gewisse Brisanz für unser Präsidium, und außerdem ist einer meiner Kollegen im Zuge der Ermittlungen ums Leben gekommen.«
»Oh, das tut mir leid. Jetzt verstehe ich, weshalb der Fall in Ihr Blickfeld gerückt ist.«
»Zhou wurde in Shaoxing geboren, ist aber nach Shanghai umgezogen, als er sieben war. Vergangenes Jahr kehrte er zum ersten Mal nach Shaoxing zurück. Und dann fuhr er gleich noch ein weiteres Mal hin. Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie etwas Licht in die Umstände dieser Besuche bringen könnten. Zum Beispiel herausfinden könnten, welche Verwandten er besucht hat. Vielleicht könnten Sie die Informationen zum Bahnhof bringen. Sie haben ja meine Handynummer.« Chen benutzte das Mobiltelefon, das er am Vortag erst erstanden hatte. »Und bitte kein Wort über meinen Besuch zu Ihren Kollegen.«
Als Chen zwei Stunden später aus dem Bahnhofsgebäude trat, sah er zu seiner Verwunderung einen riesigen modernen und belebten Platz, dahinter eine vielbefahrene sechsspurige Stadtautobahn. Vor dem Bahnhof stand eine Schlange wartender Taxis.
Chens Vorstellung von der Altstadt von Shaoxing war hauptsächlich von Lu Xun geprägt, jenem Schriftsteller, der von Mao und den Parteikadern während der Kulturrevolution die höheren revolutionären Weihen erhalten hatte. Seinerzeit waren seine Bücher die einzigen gewesen, die man lesen konnte, ohne sie hinter dem Plastikumschlag von Maos rotem Büchlein verstecken zu müssen. In Lus Erzählungen war Shaoxing eine ländliche Kleinstadt mit Booten und Märkten, mit Bauern wie Ah Q und Kindern wie Runtu. Aber auch an Shaoxing war der dramatische Wandel Chinas nicht vorbeigegangen.
Chen entdeckte Tang, der sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte und mit einem Stadtplan in der Hand auf ihn zukam. Ein stämmiger Mann Ende vierzig, mit tiefliegenden Augen und kantigem Kinn; in Tangs Physiognomie waren die typischen Merkmale des Nordens und des Südens eine interessante Mischung eingegangen. Er trug ein leichtes hellgraues Jackett, ein blaues Hemd und Jeans, man hätte ihn für einen Touristen halten können.
Ohne Fragen zu stellen, schüttelte er Chen die Hand und reichte ihm den Stadtplan. »Leider konnte ich hier nirgendwo parken. Aber der Wagen steht gleich um die Ecke. Ich hole Sie in einer Minute hier ab.«
Kurz darauf sah Chen einen glänzendschwarzen Buick auf sich zukommen, offensichtlich kein Dienstwagen. Tang hatte Wort gehalten und im Präsidium nichts von dem Besuch verlauten lassen.
Als Chen eingestiegen war, reichte ihm Tang einen großen Umschlag.
»Zhous Besuche in der Stadt waren rein privater Natur. Er hat nur einige Verwandte und Freunde getroffen. Hier habe ich Namen, Anschriften und Telefonnummern aufgelistet. Mehr konnte ich auf die Schnelle nicht erreichen.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Tang. Und wohin fahren wir jetzt?«
»Zu Zhous Cousine. Die beiden haben sich letztes Jahr getroffen.«
Der Wagen holperte durch eine ruhige Wohngegend mit engen, schäbigen Straßen, manche Häuser waren in schlechtem Zustand.
»Ich habe auch einige seiner hiesigen Amtskollegen mit auf die Liste gesetzt«, erklärte Tang und fügte dann mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu: »Leider muss ich jetzt zurück ins Präsidium zu einer Sitzung.«
»Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Sie haben schon genug getan.«
»Sobald die Sitzung vorüber ist, werde ich mich weiter umhören und Sie verständigen, sobald mir etwas Interessantes unterkommt. Vorerst können Sie die Namen auf der Liste abklappern, und dann wollen Sie sich ja sicher noch die Stadt ansehen und an dem Literaturfestival teilnehmen. Wo findet das überhaupt statt?«
»Im Lu-Xun-Haus.«
»Eine gute Wahl.«
»Und eine politisch
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