99 Särge: Roman (German Edition)
korrekte dazu. Aber vielleicht werde ich lieber den Lanting-Park besuchen.«
»Ganz wie Sie wollen, aber Sie müssen mir gestatten, Sie anschließend zum Abendessen einzuladen. Wir haben hier nicht so schicke Lokale wie in Shanghai, aber ich garantiere rustikales Ambiente und authentische Küche.«
»Dieses Angebot nehme ich gerne an. Übrigens, hat Zhou in Shaoxing eingetragenen Grundbesitz?«
»Soweit ich weiß, nicht, aber ich werde das überprüfen.«
Der Wagen näherte sich einem alten Mehrfamilienhaus, ähnlich den Wohnblocks, die in den Siebzigerjahren in Shanghai gebaut worden waren. Die meisten hatten vier Stockwerke und waren aus grauem, mit den Jahren verwittertem Zement. Chen schätzte, dass sie sich nicht allzu weit vom Stadtzentrum entfernt befanden.
»Hier wohnt Zhous Cousine. Sie heißt Mingxia.«
»Vielen Dank, Tang«, sagte Chen, bevor er ausstieg. »Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas Neues haben.«
»Das werde ich«, erwiderte Tang und fuhr davon.
Chen ging auf ein relativ neues Gebäude zu und klopfte an eine Tür, die mit roten Scherenschnitten des Schriftzeichens »Glück« geschmückt war. Man hatte das Zeichen kopfunter angeklebt, ein Wortspiel mit dem gleichlautenden Zeichen für »ankommen«. Es sollte das Glück zu dieser Tür locken.
Die Frau, die ihm öffnete, war rundlich und Mitte fünfzig, mit ersten grauen Strähnen im Haar. Ihre Stirn war tief gefurcht, und ihr Lächeln entblößte auch einen Goldzahn. Über der Hose trug sie eine weite, kurzärmelige dunkelblaue Bluse.
»Sind Sie Mingxia?«
Nachdem sie seinen Ausweis geprüft hatte, nickte sie und ließ Chen wortlos eintreten. Es war eine Einzimmerwohnung, die mit alten Möbeln und anderem Zeug vollgestopft war. Mingxia zog einen alten Rattanstuhl heran, den sie erst von einem Stapel Zeitungen befreien musste, bevor sie Chen einen Sitzplatz anbieten konnte.
Chen kam umgehend auf den Grund seines Besuchs zu sprechen.
»Zhou hat Shaoxing schon als Kind verlassen«, erklärte sie. »Soweit mir bekannt ist, hat er sich jahrelang nicht mehr hier blicken lassen. Letztes Jahr kam er dann auf einmal zurück und hat uns alle in einem Fünf-Sterne-Hotel zum Essen eingeladen. Einige Monate später gab es noch einmal eine Einladung in einem neuen Restaurant, das nach einer Figur aus dem Werk Lu Xuns benannt ist.«
»Hat er Ihnen gesagt, warum er so plötzlich zurückgekommen ist?«
»Nein, nicht genau. Es war eher wie in dem alten Sprichwort: Ein erfolgreicher Mann muss ruhmreich heimkehren . Und dazu gehört auch eine großzügige Einladung an die Familie.«
»Erinnern Sie sich an etwas Ungewöhnliches, das er während dieses Aufenthalts tat oder sagte?«
»Nein, ich habe jeweils nur ein paar Worte mit ihm gewechselt. An diesen großen Banketttischen mit mehr als zehn Leuten kann man sich nicht wirklich unterhalten. Jeder von uns hat ihm einmal zugeprostet und sich bedankt, gut möglich, dass er mich überhaupt nicht wahrgenommen hat.«
»Aber mit anderen wird er doch ausführlicher gesprochen haben, zum Beispiel über seine Arbeit oder seine Familie in Shanghai.«
»Ich erinnere mich nur, dass er sagte, die Immobilienpreise seien hier noch vergleichsweise günstig. Das weiß ich noch, weil er ja schließlich Experte in diesen Fragen war. Er erwähnte, dass eine frei stehende Villa hier für weniger als eine Million zu haben sei, geradezu ein Schnäppchen.«
»Er hat Sie also zum Kauf ermuntert?«
»Schnäppchen hin oder her, das übersteigt bei weitem meine Möglichkeiten. Er hat von einer bestimmten hochkarätigen Wohnanlage gesprochen.«
»Wollte er sich dort einkaufen?«
»Er hat nichts dergleichen erwähnt.«
»Kennen Sie den Namen der Anlage?«
»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern, aber sie liegt in der Nähe des Ostsees.«
»Gibt es noch etwas, Mingxia?«
»Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber er kam nicht mit seiner Familie. Stattdessen hatte er eine Sekretärin dabei. Sie saß die ganze Zeit neben ihm und hat während des Banketts sogar den Fisch aus dem Ostsee für ihn entgrätet. Das ist mir aufgefallen, aber für jemanden in seiner Position ist das wohl nichts Ungewöhnliches.«
»Sie meinen, sie war seine kleine Sekretärin?«
»Ich weiß nicht, eigentlich war sie nicht der Typ dafür und nicht mehr jung genug, wenngleich natürlich deutlich jünger als er.«
Eine Dreiviertelstunde später verabschiedete sich Chen. Bis auf die Tatsache, dass Zhou mit Fang angereist war, hatte er nichts Neues
Weitere Kostenlose Bücher