99 Särge: Roman (German Edition)
weder getroffen noch befragt. Von Hauptwachtmeister Wei weiß ich, dass sie nicht zum Kreis der Verdächtigen zählt.«
»Nicht was Zhous Tod betrifft, nein, aber sie könnte Mitwisserin seiner krummen Touren gewesen sein. Wir haben mehrfach mit ihr gesprochen, doch sie hat das immer abgestritten.«
»Sie war nur seine Sekretärin, da muss sie nicht unbedingt eingeweiht gewesen sein.«
»Nicht nur seine Sekretärin, Oberinspektor Chen, sondern seine kleine Sekretärin.«
»Ah, das wusste ich nicht«, erwiderte er, obgleich er sich sehr wohl erinnerte, dass Wei und Vizedirektor Dang diesen Ausdruck gebraucht hatten. Chen ignorierte Jiangs sarkastischen Ton, schließlich wollte er Informationen bekommen. »Was können Sie mir denn noch über sie erzählen, Jiang.«
»Sie hat in England studiert, und Zhou hat ihr diese Stelle im Büro besorgt. Sie verfügt auch weiterhin über einen gültigen Reisepass und Einreisevisa für England und Europa. Wir müssen verhindern, dass sie das Land verlässt. Ich habe ihr Bild bereits an alle Grenzkontrollstellen geschickt.«
»Verstehe.« Dennoch leuchtete ihm Jiangs Verhalten nicht ein. Selbst wenn sie um Zhous Vorteilsnahme wissen sollte, war das noch lange kein Staatsgeheimnis. Chen sah keinen Grund zu derartiger Panik.
»Sie müssen Fang so schnell wie möglich finden. Oberinspektor Chen. Ich habe schon mit Parteisekretär Li darüber gesprochen. Sie haben doch Erfahrung mit dem Aufspüren verschwundener Personen.«
»Bitte faxen Sie mir umgehend alle Informationen, die Sie über Fang haben, auch Fotos. Und benachrichtigen Sie Liao von der Mordkommission. Ich werde mein Bestes tun.«
Wieder hatte die Sache eine unerwartete Wendung genommen. Doch Chen konnte nichts Überraschendes an Fangs Verschwinden erkennen. Vermutlich hatte Jiang bei seinen »mehrfachen Gesprächen« entsprechenden Druck ausgeübt, sodass ihr Flucht als der einzige Ausweg erschienen war. Eine plausible Kurzschlussreaktion für eine Sekretärin – gar eine kleine Sekretärin. Vielleicht würde sie ja von selbst zurückkommen, noch bevor das Präsidium sich auf ihre Fährte setzte. Jedenfalls hatte Jiang ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt. Weshalb würde er sonst alle Grenzkontrollstellen alarmieren?
Chen beschloss, den Besuch bei seiner Mutter aufzuschieben, und betrat stattdessen ein kleines Internetcafé auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Genau wie in dem Laden bei der Konzerthalle in Pudong wies auch hier ein Plastikschild darauf hin, dass die Benutzer sich registrieren lassen mussten. Diesmal zückte Chen unaufgefordert seinen Ausweis.
Er ließ sich vor dem zugewiesenen Rechner nieder, einen Becher Tee neben sich, den es hier umsonst gab, der aber wie zweiter Aufguss schmeckte. Chen öffnete seine Mailbox, und tatsächlich war bereits die erste Lieferung von Jiang eingetroffen – Material über Fang mitsamt Fotos. Sie zeigten Fang als etwa Zwanzigjährige, ein hübsches, aufgewecktes Mädchen. Er überflog einiges an Hintergrundinformation, fand aber weder Neues noch Nützliches. Das gesamte Material gründlich durchzuarbeiten würde ihn Stunden kosten.
Wieder klingelte sein Handy. Diesmal war es Lianping, und er nahm den Anruf an. Nachdem sie sich begrüßt hatten, fragte er: »Was gibt’s?«
»Ich fahre morgen zum Literaturfestival nach Shaoxing.«
»Wie schön. Sie waren noch nie in Shaoxing?«
»Nein. Es ist nur eine Stunde Fahrt von Shanghai, und die Sponsoren bieten ein Gesamtpaket für Journalisten an – einschließlich Besuch des Lu-Xun-Hauses, Essensgutscheinen und einer Übernachtung im Vier-Sterne-Hotel, falls man über Nacht bleiben will.«
»Ein verlockendes Angebot.«
»Ich habe Ihren Namen den Veranstaltern gegenüber erwähnt. Man würde Sie gern als Gastredner einladen, zu einem stattlichen Honorar, versteht sich, Spesen inbegriffen.«
»Danke, Lianping, eigentlich habe ich keine Zeit für ein Literaturfestival, geschweige denn für einen Vortrag, aber ich werde darüber nachdenken.«
»Bitte, tun Sie das. Ich werde jedenfalls dort sein.«
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, überlegte er einen Moment. Plötzlich übte die Stadt Shaoxing eine sonderbare Anziehungskraft auf ihn aus. War es die Aussicht auf einen Kurzurlaub oder eher die Person, die ihn dazu eingeladen hatte, fragte er sich spöttisch und versuchte sich die Ferienstimmung wieder auszureden. Shaoxing war eine geschichtsträchtige Stadt, bekannt für die vielen Gelehrten, die sie
Weitere Kostenlose Bücher