99 Särge: Roman (German Edition)
Öffentlichkeit gelangen?
Oder war da noch etwas anderes?
Als Chen sich von diesen Erwägungen losriss, bemerkte er, dass Melong ihn spöttisch ansah.
»Was ist los?«
»Die Nudeln sind kalt geworden – jetzt schmecken sie wie Kleister.«
»Entschuldigung. Ganz und gar meine Schuld.«
»Nein, meine. Ich hätte Ihnen die Fotos erst nach dem Essen zeigen sollen.«
»Bestellen wir doch etwas anderes.«
»Nein, danke. Eigentlich habe ich gar keinen Hunger.«
»Ich stehe in Ihrer Schuld, Melong. Ein andermal lade ich Sie zu einem ordentlichen Essen ein.« Dann fragte er, was er eigentlich schon längst hätte fragen sollen: »Wie geht es Ihrer Mutter?«
»Sie ist bereits im Krankenhaus. Die Ärzte kümmern sich rührend um sie. Ich werde jetzt gleich hingehen. Besucher sind nur bis zwanzig Uhr zugelassen.«
»Stimmt.«
Als er Melong ins Taxi steigen sah, überkam ihn wieder sein schlechtes Gewissen. Für einen Besuch bei seiner Mutter war es jetzt zu spät, aber er könnte ihr zumindest wie geplant ein paar fertige Gerichte liefern lassen. Er betrat das gegenüber gelegene kleine Spezialitätenrestaurant und wählte geräucherten Karpfen nach Shanghai-Art sowie ein halbes Shaoxing-Huhn.
Aber vielleicht war es noch nicht zu spät, um Fangs Eltern einen Besuch abzustatten.
Wieder betrat er das Internetcafé. Der Angestellte erkannte ihn und verlangte diesmal keinen Ausweis. Chen rief erneut die Mail von Jiang auf und suchte im Anhang die Adresse der Fangs heraus.
Erneut hatte er das Gefühl, im Zusammenhang mit Lianpings Einladung zu dem Festival in Shaoxing einem wichtigen Gedanken auf der Spur gewesen zu sein, von dem Melongs Anruf ihn abgelenkt hatte.
Dann kam ihm plötzlich die Idee.
Hastig zog er den Ordner aus seiner Aktentasche. Hier war es. Zhou hatte im vergangenen Jahr zwei Reisen nach Shaoxing unternommen. Er war dort geboren und hatte bis zum Alter von sieben Jahren dort gelebt, bis die Familie wegen der Versetzung seines Vaters nach Shanghai umzog. Der Besuch im vergangenen Jahr war das erste Mal gewesen, dass er in seine Heimatstadt zurückkehrte, kurz darauf war er noch einmal hingefahren. Hauptwachtmeister Wei hatte gründlich recherchiert, in seinem Material über Zhou waren all dessen Reisen der letzten Jahre detailliert aufgelistet, samt dem Zweck und den Personen, die er getroffen hatte, vor allem, wenn es sich um offizielle Amtsträger handelte. Aber bei den beiden Fahrten nach Shaoxing war nichts dergleichen vermerkt. Offenbar war Zhou aus unbekannten persönlichen Gründen dorthin gefahren.
Eine Randnotiz wies darauf hin, dass Zhou in Shaoxing keinen eingetragenen Grundbesitz besaß. Wei hatte seine Sache wirklich gut gemacht und aus Zhous Position und Verbindungen die richtigen Schlüsse gezogen.
Natürlich konnte ein Mensch aus einer plötzlichen nostalgischen Sehnsucht in die Stadt seiner Kindheit reisen – womöglich auch zweimal im Jahr. Dennoch schien das zu einem vielbeschäftigten Beamten wie Zhou nicht recht zu passen.
Chen griff zu seinem Handy und rief Parteisekretär Li an, um ihn davon zu unterrichten, dass er morgen eine Rede bei einer Literaturkonferenz außerhalb Shanghais zu halten habe, jedoch am Abend wieder zurück sei.
»Aber natürlich, fahren Sie, Oberinspektor Chen.«
Li fragte nicht einmal, wo die Konferenz stattfand. Auch nach dem Stand der Ermittlungen erkundigte er sich nicht.
»Ich bin jederzeit erreichbar und in ein, zwei Stunden bei Ihnen, falls es nötig sein sollte.«
»Reisen Sie nur, und machen Sie sich keine Gedanken. Schließlich sind Sie ein gefeierter Dichter.«
Als Nächstes suchte Chen sich online die Zugverbindungen von Shanghai nach Shaoxing heraus. Wie sich herausstellte, hatte er am Morgen die Auswahl zwischen gleich mehreren Schnellzügen. Dabei redete er sich ein, diesen spontanen Entschluss ausschließlich im Interesse der Ermittlungen gefasst zu haben.
Er stand auf und verließ das Internetcafé.
Über den dämmrigen Abendhimmel flatterte die Silhouette einer einsamen Fledermaus.
18
Am nächsten Morgen nahm Chen den Schnellzug nach Shaoxing.
Unterwegs informierte er Hauptwachtmeister Tang vom örtlichen Präsidium telefonisch über sein Kommen. Vor zwei, drei Jahren hatte er dem Kollegen bei schwierigen Ermittlungen geholfen, die sich ohne sein Zutun wesentlich länger hingezogen hätten.
»Welcher gute Wind weht Sie denn heute nach Shaoxing, Oberinspektor Chen?«
»Man hat mich zum hiesigen Literaturfestival
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