99 Särge: Roman (German Edition)
Informationen erhalten würde. Was sollte er bis dahin tun?
Als er in eine Nebenstraße einbog, sah er ein Schild, das den Weg zum Lu-Xun-Haus wies, anscheinend lag das Gebäude keine zehn Minuten von hier entfernt. Dort fand das Literaturfestival statt, aber es würde ihm sicher gelingen, vorerst nicht von anderen Teilnehmern gesehen zu werden.
Unter den modernen chinesischen Schriftstellern schätzte er keinen so sehr wie Lu Xun, der in den Zwanziger- und Dreißigerjahren gegen die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten seiner Zeit angeschrieben hatte. Nach 1949 war er dann lange der einzige proletarische Autor, den die Parteiregierung gelten ließ, unter anderem weil er die Nationalisten kritisiert hatte.
Jenseits einer steinernen Brücke sah Chen eine Touristengruppe am Eingang einer alten Gasse einem Bus entsteigen. Alle hatten Stadtpläne und Broschüren dabei. Ein älterer Mann mit falschem Zopf und grauem Baumwollgewand näherte sich ihnen mit einem Bambuskorb voller Souvenirs; er schien geradewegs einer Geschichte von Lu Xun entsprungen zu sein.
Das Anwesen der Familie Lu hatte, nach der Zahl der Hallen und Zimmer zu urteilen, einst einen ganzen Clan beherbergt. Auch der Hundert-Blumen-Garten und das Drei-Düfte-Studio auf der anderen Straßenseite gehörten dazu. Beides kam in den Texten Lu Xuns immer wieder vor. Chen unterdrückte den Impuls hineinzugehen.
Etwas weiter die Straße hinunter hing über dem Tor zu einem Hofhaus ein vertikales Holzschild mit der Aufschrift »Lu-Xun-Akademie für junge Autoren«. Die Tür war nur angelehnt. Chen warf durch den Spalt einen Blick in den ruhigen, gepflasterten Innenhof. Vermutlich war das ein Rückzugsort, an dem Schriftsteller ungestört arbeiten konnten. Vielleicht wäre das ja auch etwas für ihn. Er könnte sich hier eine Woche lang zurückziehen und das kreative Feng-Shui von Lu Xuns ehemaligem Wohnsitz auf sich wirken lassen. Allerdings würde er kaum mehr als »junger Schriftsteller« durchgehen. Als er von drinnen Stimmen hörte, ging er rasch weiter.
»Kaufen Sie eine Schriftrolle mit der Kalligraphie eines Lu-Xun-Gedichts«, sprach ihn ein fliegender Händler an, der wie ein traditioneller Gelehrter gekleidet war. »Der Kalligraph ist ein unentdecktes Talent, in ein paar Jahren wird diese Rolle ein Vermögen wert sein, glauben Sie mir.«
Auf der Rolle stand ein Vierzeiler in flüssigem Wei-Stil.
Wie kann ich leidenschaftlich sein wie dazumal?
Ob Blumen blühn, ob Blumen welken, ist egal.
Wer dachte, dass ich im Süden regenschwer,
für einen Landsmann weinte einmal mehr?
Das Gedicht hatte Lu Xun für Yang Xingfu geschrieben, der im heroischen Kampf für die Demokratie gestorben war. Unwillkürlich fühlte sich Chen an Hauptwachtmeister Wei erinnert und stellte schuldbewusst fest, dass er selbst keine Zeile für den toten Kollegen geschrieben hatte.
»Nur zweihundert Yuan«, rief der Händler. »Sie sind selbst ein Gelehrter und kennen den Wert einer solchen Kalligraphie.«
»Hundert«, feilschte er automatisch.
»Abgemacht.«
In Shanghai würde er die Rolle in seinem Büro aufhängen, als Erinnerung an diese Reise und im Gedenken an Hauptwachtmeister Wei.
Wie das übrige China wurde auch Shaoxing mittlerweile völlig vom Konsumdenken bestimmt. Die ganze Straße – mit Ausnahme des Lu-Xun-Anwesens – bestand aus kleinen Lokalen, Imbissbuden und Andenkenläden, die alle auf die eine oder andere Art den großen Schriftsteller im Namen führten. Einer der Ladenbesitzer zog die Aufmerksamkeit potenzieller Kunden dadurch auf sich, dass er einen Steinguttopf mit Shaoxing-Reiswein auf dem Kopf balancierte und in einen Kreis leerer Weinflaschen hinein- und wieder heraussprang. Chen konnte sich nicht erinnern, dergleichen bei Lu Xun gelesen zu haben.
Vergeblich suchte er nach einem Café, war aber zugleich erleichtert, hier noch kein Starbucks vorzufinden. Also betrat er eine kleine Taverne und bestellte eine Schale Reiswein. Er war der einzige Gast. Das Getränk wurde mit einem Tellerchen aromatisierter getrockneter Erbsen serviert, und er schob eine davon in den Mund und überlegte, ob er kurz beim Literaturfestival vorbeischauen sollte. Aber wenn ihn die Veranstalter entdeckten, würden sie ihn so schnell nicht wieder gehen lassen.
Außerdem sah er keinen Sinn darin, zusammen mit den anderen Teilnehmern das Loblied auf den »Sozialismus chinesischer Prägung« zu singen. Lu Xun hätte so etwas nie getan.
Chen dachte an einen Artikel, den er
Weitere Kostenlose Bücher