99 Särge: Roman (German Edition)
warst eine Klasse über mir. Und wie ich sehe, bist du inzwischen ein hohes Tier geworden«, bemerkte er beinahe unterwürfig. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich brauche Einblick in die Registereinträge.«
»Diese hier?«, fragte er und reichte Chen das Buch.
Chen überflog die ersten zwei Seiten. Es war ein neues Register, der erste Eintrag lag nur drei Tage zurück.
»Nein, die beiden davor.«
»Aber natürlich.« Eisenkopf Diao griff unter den Tresen und zog zwei weitere Bücher hervor.
»Kann ich sie irgendwo in Ruhe durchsehen?«, fragte Chen.
»Komm mit in mein Büro. Oben unterm Dach.«
Ohne weitere Umschweife stieg Eisenkopf Diao vor ihm eine wackelige Leiter hinauf. »Nimm dir Zeit, so lange du willst.«
Der Raum war kaum mehr als ein ausgebauter Dachboden, eng und schlecht beleuchtet, aber für Chens Zwecke völlig ausreichend. Außerdem gab es den Monitor einer Überwachungskamera, auf dem er das Treiben unten verfolgen konnte, ohne gesehen zu werden.
Er ging die Einträge durch und fand im zweiten Buch die Zeitspanne, die ihn interessierte. Nach wenigen Minuten hatte er Datum, Uhrzeit und den Namen lokalisiert, allerdings stimmte die Nummer nicht mit dem Rechner überein, von dem die Mail und das Foto an Melong geschickt worden waren.
Dennoch, ein weiteres Puzzle-Teil fügte sich ins Bild.
Seufzend starrte Chen auf die Seite.
Auf dem Monitor sah er Eisenkopf Diao rauchend hin und her gehen. Er hatte den großen Kopf gesenkt und schien besorgt.
Dann tat der Oberinspektor etwas sehr Ungewöhnliches. Er riss einige Seiten aus dem Register und steckte sie in die Tasche, eine Handlungsweise, die ihn selbst überraschte. Noch vor wenigen Minuten hätte er sich so etwas nicht zugetraut. Das war ein höchst unprofessionelles und unverzeihliches Vorgehen für einen Polizisten.
Doch dann versicherte er sich rasch, dass es Wichtigeres gab als die Berufsehre eines Polizeibeamten. Und vielleicht musste er sich ja gar keine Sorgen machen. Wer würde ein paar fehlende Seiten in einem alten Register schon vermissen?
Er schlug das Buch zu, stieg die Leiter hinunter und gab es zurück.
Als er das Café verließ, stand Eisenkopf Diao breit grinsend auf der Schwelle und winkte ihm nach. Da fiel Chen ein, dass er sich selbst nicht ins Register eingetragen hatte. Und das war gut so. Es gab eben immer Schlupflöcher, so wie neulich in dem Internetcafé in Pudong.
An der Ecke gewahrte er einen weißhaarigen Mann in abgerissener Kleidung, der aus einer der ärmlichen Gassen auf der anderen Seite der Yan’an Lu geschlurft kam. Ihn schien der Aberglaube, dass man nicht unter tropfender Wäsche hindurchgehen soll, nicht zu kümmern. Aber was konnte ein armer Bettler, der sich auf einen Krückstock stützen musste, an seinem Schicksal schon ändern? Vermutlich war er in ein und derselben engen Gasse geboren und aufgewachsen und würde bis zu seinem bitteren Ende hier nicht wegkommen.
Chen wollte eben die Straße überqueren, als ein schwarzer BMW die Jinling Lu entlanggerast kam und ihn mit Schmutzwasser bespritzte.
»Du bist wohl blind!«, rief der junge Fahrer ihm zu, eine Hand lässig auf dem Lenkrad, während die andere auf der Schulter der jungen Frau auf dem Beifahrersitz ruhte, ihre Füße ragten wie frische Lotoswurzeln aus dem Seitenfenster.
Derartige Kontraste waren in dieser Stadt inzwischen an der Tagesordnung und deprimierten Chen stets aufs neue.
Aber vielleicht war er ja blind. Er hatte derzeit tatsächlich keine Ahnung, in welche Richtung er sich bewegte. Plötzlich klingelte sein Telefon. Der Kleine Bao vom Schriftstellerverband meldete sich.
»Ich habe das, was Sie wollten, Meister Chen«, stieß er atemlos hervor. »Und sogar noch mehr. Sie werden überrascht sein.«
24
Lianping erwartete ihn in dem elegant ausgestatteten Separee des vornehmen Restaurants, das Chen vorgeschlagen hatte. Es schien neu zu sein und befand sich unweit des Eingangs zum Bund-Park. Vom Fenster im ersten Stock aus konnte man den Schiffsverkehr von und nach Wusongkou, dem Shanghaier Seehafen, beobachten.
Lianping war vollkommen aufgewühlt. In den letzten Tagen war viel geschehen. Es schien ihr fast, als wäre das alles jemand anderem passiert. Ungläubig ließ sie die Ereignisse vor ihrem inneren Auge noch einmal Revue passieren.
Doch als Beweis funkelte ein Diamantring an ihrem Finger. Xiang hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie hatte angenommen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, hatte er ihr den Ring
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