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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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Abendsonne, / das Wasser fließt still der Ferne zu. / Ihr Herz möchte brechen beim Anblick / der kleinen Insel umgeben von weißen Wasserlinsen.
    Bis auf die fehlenden weißen Wasserlinsen passte diese Szene, die mehr als tausend Jahre zurücklag, durchaus zu ihrer momentanen Stimmung. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Chens Annäherung nicht ohne Hintergedanken erfolgt war, aber vielleicht bildete sie sich das in ihrem nervösen Zustand auch nur ein.
    Ein Kellner, der eine Kanne Tee brachte, unterbrach ihre Gedanken. Der Service hier war wirklich hervorragend. Sie hatte sich zuvor im Internet über dieses Restaurant informiert. Es war geradezu obszön teuer und wurde gern von sozialen Aufsteigern frequentiert, die sich hier beim Geldausgeben zusehen ließen. An ihrer Teeschale nippend blickte sie hinaus in den Bund-Park.
    Er war immer schon klein gewesen, doch seit dort ein Betonmonument errichtet worden war, das dem Logo der Drei-Gewehre-Unterwäsche ähnelte, und am Ufer ständig neue, trendige Cafés eröffneten, wirkte er wie ein vollgestelltes Wohnzimmer. Sie verstand nicht, was die Shanghaier an diesem Park fanden, der offenbar auch für Chen von besonderer Bedeutung war.
    Sturmvögel jagten über die Wellen, ihre Flügel glitzerten im grauen Licht, als kämen sie aus einem verblassenden Traum. Die Trennlinie zwischen Huangpu und Soochow Creek war nicht mehr auszumachen.
    In dem Moment betrat Chen lächelnd das Separee. Zu ihrer Überraschung trug er eine graue Mao-Jacke; noch nie hatte sie ihn in so förmlicher Kleidung gesehen.
    »Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Die Sitzung bei der Stadtregierung hat länger gedauert als erwartet. Mir blieb keine Zeit mehr zum Umziehen.«
    »Ich habe mich schon gewundert, die Mao-Jacke wirkt so politisch korrekt. Aber keine Sorge, Chen, die kommen jetzt wieder in Mode. Hollywoodstars tragen sie sogar zur Oscar-Verleihung. Und für dieses teure Restaurant sind Sie durchaus angemessen gekleidet.«
    »Das Essen hier ist nicht schlecht«, sagte er, »und das Restaurant liegt am Bund. Man zahlt für die Aussicht.«
    »Letztlich aber für das Gefühl, einer Elite anzugehören und anderen zu zeigen, dass man es sich leisten kann.«
    »Gut beobachtet, Lianping. Mir liegt vor allem an diesem Blick mit dem Bund im Hintergrund. Es ist mein Lieblingsplatz in dieser Stadt.«
    »Das mag an Ihrem individuellen Feng-Shui liegen«, sagte sie, noch immer unentschlossen, wie sie ihre Eröffnung formulieren sollte. Es wäre nicht anständig, ihm die Neuigkeit länger vorzuenthalten. Dennoch sagte sie zunächst: »Erzählen Sie mir mehr darüber.«
    »In den frühen Siebzigerjahren habe ich mit Freunden hier im Park Tai-Chi geübt, später habe ich mich dann aufs Englischlernen verlegt. Nach der Kulturrevolution ist es mir deshalb gelungen, einen Studienplatz im Fach Anglistik zu bekommen. Aber, wie man ja weiß, läuft es meist nicht so wie geplant. Nach dem Abschluss bekam ich eine Stelle bei der Polizei zugewiesen«, erzählte er und trank von seinem Tee. »Aber ich komme nach wie vor gern hierher, um die Erinnerungen an jene Jahre lebendig zu halten. Vielleicht finden Sie das sentimental, aber genau hier, wo jetzt das Restaurant steht, habe ich jahrelang fast jeden Morgen auf einer grünen Bank gesessen.«
    »Das besondere Feng-Shui dieses Parks hat einen außergewöhnlichen Polizisten hervorgebracht. Hier schlagen die Wellen auch weiterhin an die Ufer eines ewig jungen Traums.«
    »Werden Sie nicht sarkastisch, Lianping. Ich glaube eher, dass es die Fragmente einer Vergangenheit sind, in die ich mich rette, um der Gegenwart zu entfliehen.«
    »Jetzt werden Sie poetisch«, konterte sie.
    »Damals hätte ich nie gedacht, dass ich eines Tages Polizist werden würde, und jetzt ist es zu spät, noch einen anderen Beruf zu ergreifen. Das gilt nicht für Sie, Ihnen steht die Welt noch offen«, sagte er und wechselte dann das Thema. »Aber zurück zu diesem Restaurant. Es greift nicht unbedingt die Geschichte des Bund-Parks auf, aber Herr Gu, der Besitzer, hatte seine eigenen Vorstellungen.«
    »Gu von der New World Group?«
    »Genau der. Betrachtet man die Geschichte dieses Parks, so müsste es eigentlich ein Restaurant im westlichen Stil sein, angefüllt mit nostalgischen Erinnerungen an eine andere Epoche. Aber Gu wollte davon nichts hören. Er möchte chinesischen Gästen chinesische Küche servieren. Vielleicht ist das seine Art des Patriotismus.«
    »Und eine Geste

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