99 Särge: Roman (German Edition)
politischer Korrektheit«, warf Lianping ein. »Damals, in den 1920er Jahren, gab es hier angeblich ein Schild, auf dem ›Für Hunde und Chinesen verboten‹ stand. Andererseits sagen Historiker, dieses Schild habe nie existiert, sondern sei eine Erfindung der Partei nach 1949 gewesen.«
»Nun, die Trennlinie zwischen Wahrheit und Fiktion wird immer von denjenigen bestimmt, die an der Macht sind. Gu jedenfalls glaubt an die Existenz des Schilds, und die Debatte darüber ist gut für den Umsatz. Dieses Restaurant ist sehr teuer und damit ein Symbol für Chinas neuen Reichtum. Natürlich steht es auch westlichen Gästen offen, solange sie zahlungskräftig sind. Ich habe gehört, dass einige westliche Geschäftsleute ihre chinesischen Partner ganz bewusst hierher zum Essen einladen.«
Lianping warf einen Blick auf die Speisenkarte, und selbst nach Chens Warnung erschienen ihr die Preise schockierend hoch.
»Keine Sorge«, sagte Chen. »Wir müssen ja nicht viel bestellen, und Gu gibt mir Rabatt. Ich war nur auf der Suche nach einem ruhigen Ort, an dem wir uns unterhalten können.«
Sie hatte keine Ahnung, was er mit ihr besprechen wollte, und überlegte, ob nicht besser sie den Anfang machte. Sie hatte ihre Rede einstudiert, doch ihr fehlte das nötige Selbstvertrauen, sie ihm vorzutragen.
»Sie kennen offenbar eine Menge reiche Leute, Chen.«
»Nicht viele, aber in unserer heutigen Gesellschaft kann selbst ein Polizist ohne Beziehungen wenig ausrichten.«
»Kennen Sie Xiang Buqun von der Purple City Group?«
»Ist das nicht der Chef der Immobilien-Holding? Ich glaube, ich habe ihn bei der Eröffnung des New-World-Projekts getroffen. Vielleicht auch bei anderen Gelegenheiten. Warum fragen Sie?«
»Ich muss mit Ihnen reden«, begann sie zögernd, »über etwas, das ich Ihnen bisher nicht gesagt habe. Ich bin schon ziemlich lange mit Xiang Haiping, dem Sohn von Xiang Buqun, befreundet. Letzten Monat war er auf einer Geschäftsreise in Shenzhen, aber jetzt ist er zurück und hat mir unerwartet einen Heiratsantrag gemacht.«
»Xiang Haiping, der Erbe der Purple City Group?«
»Der vermutliche Erbe«, antwortete sie mit leiser Stimme. Sie konnte ihm weder direkt in die Augen sehen, noch wusste sie seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Was immer er mit dieser Präzisierung hatte ausdrücken wollen, dies war nicht die Reaktion, die sie erwartet hatte.
Bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, kam Gu hereingeplatzt. Er trug eine randlose Brille, einen Anzug aus hellem Tuch, dazu eine scharlachrote Seidenkrawatte. Obwohl er klein war, wirkte er imposant.
»Das erste Mal, dass Sie hier sind, Oberinspektor Chen. Es ist mir eine Ehre, Sie zu begrüßen«, sagte er und warf einen anerkennenden Blick auf Chens Begleiterin. »Noch dazu in Begleitung von Lianping.«
Sie kannte Gu flüchtig von Pressekonferenzen, obwohl der Leiter der New World Group sich selten in der Öffentlichkeit zeigte und ihre Bitten um ein Interview stets abgelehnt hatte.
»Wir brauchen einen ruhigen Ort zum Reden, deshalb kam mir der Gedanke«, sagte Chen. »Aber Sie müssen versprechen, mich wie einen ganz gewöhnlichen Gast zu behandeln, Gu.«
»Wie können Sie so etwas sagen, Oberinspektor Chen? Jetzt, wo Sie endlich der Einladung in mein Restaurant gefolgt sind, dürfen Sie nicht kneifen. Sie wollen doch nicht, dass ich vor einer Schönheit wie Lianping das Gesicht verliere, oder?«
»Dann sind Sie beide also alte Bekannte«, bemerkte sie, um die Situation zu überspielen.
»Dazu muss ich Ihnen etwas erzählen, Lianping«, sagte Gu mit ernsthafter Miene. »Wissen Sie, woher der Erfolg der New World rührt?«
Gu würde sie so schnell nicht allein lassen, stellte Lianping erleichtert fest. Vielleicht war es ganz gut, dass ein anderer das Reden übernahm. Sie hatte gesagt, was sie zu sagen hatte.
»Woher denn?«, fragte sie.
»Alles hing an einem Darlehen, das ich zu Anfang benötigte. Und Chen hat es möglich gemacht, indem er meinen Projektentwurf in hervorragendes Englisch übersetzt hat. Das war keine leichte Aufgabe, denn damals gab es in der chinesischen Sprache noch nicht die richtigen Fachausdrücke für derartige Unternehmen. Der Text musste korrekt sein und der Kontext auch. Als der amerikanische Joint-Venture-Partner den Projektentwurf auf Englisch las und erfuhr, dass ihn ein hochrangiger Shanghaier Polizeibeamter übersetzt hatte, war er so beeindruckt, dass er das Darlehen sofort gewährte.«
Also war die amerikanische Seite
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