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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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alles, was er tat, im Dienste einer »harmonischen Gesellschaft«.
    Aber was hieß das in diesem konkreten Fall?
    Er nahm eine Abkürzung durch einst vertraute Gässchen und spürte plötzlich, wie Wassertropfen auf seine Stirn trafen. Er hob den Kopf und sah farbenfrohe tropfnasse Wäsche, die an einer langen Bambusstange über seinem Kopf hing. Ein weiteres schlechtes Omen für die laufenden Ermittlungen. Nach altem Volksglauben brachte es Unglück, wenn man unter der Unterwäsche einer Frau hindurchging, noch dazu, wenn sie auf einen heruntertropfte …
    »Verdammt! Das ist ja widerlich.«
    Chen schrak zusammen, als er seinen innerlichen Fluch laut aus dem Mund eines Mannes hörte, der eine große Reisschüssel vor sich hatte und empört den Kopf über eine Krabbe schüttelte, die er soeben auf den Boden gespuckt hatte.
    Eine ältere Frau am gemeinsamen Wasseranschluss warf ihm einen fragenden Blick zu. »Weißt du denn nicht, dass man sie in Formalin taucht, damit sie so weiß sind wie Wuxie-Krabben?«
    »Schmeckt wie der olle Mao.«
    »Wie bitte?«
    »Haben sie den nicht auch in Formalin getaucht, bevor sie ihn in seinen Kristallsarg legten?« Ärgerlich stand der Mann auf und warf den Rest seines Mittagessens in den offenen Müllbehälter und murmelte: »Späte Rache.«
    »Aber unter dem Großen Vorsitzenden hättest du keine Krabben zu Mittag gehabt.«
    »Stimmt. Die gab’s damals auf dem Markt nicht zu kaufen.«
    In letzter Zeit waren die shikumen -Reihenhäuser und longtang -Gässchen wiederentdeckt worden, ein traditioneller Lebensstil, den die nostalgischen Neureichen neuerdings für schick hielten.
    Wie konnten die einfachen Leute angesichts der wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm, angesichts der schamlosen Korruption und Ungerechtigkeit und der von giftigen Chemikalien verseuchten Lebensmittel so ungerührt in dieser schäbigen Gasse sitzen wie auf einer nostalgischen Postkarte?
    Sie wünschten sich nichts sehnlicher, als in ein neues Apartment zu ziehen, und waren doch ausweglos hier gestrandet.
    Ganz in der Nähe der Wohnung seiner Mutter bemerkte Chen einen Obststand, daneben lag ein grauhaariger Mann auf einem kaputten Rattansessel, der von Plastikschnüren und anderen Materialien notdürftig zusammengehalten wurde. Über sein Gesicht hatte er eine Zeitung gebreitet, die Schlagzeilen waren noch teilweise erkennbar. »Lesen … ein Paradies für die Intelligenz«, stand da. Seine Füße in Socken baumelten über dem mit Zigarettenkippen übersäten Gehsteig. Er schien nichts von seiner Umgebung wahrzunehmen, nickte Chen aber dennoch wie ein aufgezogener Spielzeugsoldat zu.
    Plötzlich erkannte Chen in ihm einen früheren Mitschüler aus der Oberschule. Er war bereits vor mehreren Jahren arbeitslos geworden, als der Staatsbetrieb, in dem er arbeitete, geschlossen wurde. Seither verdiente er seinen kärglichen Lebensunterhalt an diesem Obststand an der Ecke. Jeden Tag saß er hier und war fester Bestandteil des Straßenbilds geworden. Chen blieb stehen und kaufte zwei kleine Bambuskörbchen, eines mit Äpfeln, eines mit Orangen.
    Mit den Körben in der Hand klopfte er an die Tür seiner Mutter.
    Durch Vermittlung des Nachbarschaftskomitees war sie aus ihrem Dachstübchen in ein Zimmer von ähnlicher Größe im Erdgeschoss desselben Hauses umgezogen. Das Nachbarschaftskomitee kümmerte sich wirklich vorbildlich um sie, allerdings nicht etwa, weil sie eine verdiente ältere Mitbürgerin war, sondern weil ihr Sohn eine wichtige Position in der Parteihierarchie innehatte. Nachdem sie sich standhaft weigerte, bei ihm einzuziehen, und unbedingt in der alten Umgebung bleiben wollte, war das alles, was er kraft seiner Stellung für sie hatte tun können.
    Nach mehrfachem Klopfen öffnete er die Tür und trat ein. Er fand sie in einem Bambus-Liegestuhl dösend, eine Tasse grünen Tee neben sich auf dem Beistelltischchen. In dem Lichtkegel, der durch die Tür hereindrang, wirkte sie entspannt, aber auch ein wenig einsam. Da sie schwerhörig war, blinzelte sie erstaunt, als sie die Augen öffnete und ihn erblickte.
    »Ach, wie schön, dass du vorbeikommst, mein Sohn. Aber du hättest mir doch nichts mitbringen müssen. Ich habe alles, was ich brauche«, sagte sie und versuchte aufzustehen, wobei sie sich schwer auf den Bambusstock mit dem geschnitzten Drachenkopf stützte. »Du hast nicht angerufen.«
    »Ich hatte bei der Stadtregierung zu tun, da dachte ich, ich schaue auf dem Rückweg bei dir

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