99 Särge: Roman (German Edition)
auf den Finger gestreift, und sie hatte ihn behalten.
Sie wusste zwar nicht, wie sie Chen ihre Entscheidung mitteilen sollte, fand aber, dass sie es ihm schuldig war und Xiang auch.
Eine laue Maibrise trug die Melodie des Glockenspiels vom Zollgebäude am Bund herüber. Wieder zuckte ihr linkes Augenlid. Das musste der Stress sein – oder vielleicht ein weiteres schlechtes Omen. In ihrer Heimat Anhui galt das Zucken eines Augenlids als Vorbote von Unglück.
Sich für eine Heirat mit Xiang zu entscheiden war ihr nicht leichtgefallen. Es war kein Herzenswunsch, eher eine Gelegenheit, die man nicht verstreichen lassen durfte. Schließlich lebte sie in materialistischen Zeiten, und die Regenbogenpresse berichtete täglich von hübschen jungen Mädchen, die sich einen Millionär geangelt hatten und mit ihm »glücklich bis ans Ende ihrer Tage« lebten.
Lianping trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und wünschte sich stattdessen in eine Welt, wie die von Chen in Shaoxing zitierten Gedichte sie schilderten. Doch es half nichts, sie musste sich der Realität stellen. Erst gestern hatte ihr Vater ihr von Schwierigkeiten in seiner Fabrik berichtet; er schrieb von schrumpfenden Märkten und steigenden Rohstoffpreisen. Unter diesen Umständen konnte sie ihn auch nicht länger um Unterstützung bei der Ratenzahlung für das Apartment bitten. Eben erst waren in ihrer Wohnanlage die Parkgebühren erhöht worden; da aber weiterhin zu wenig Parkplätze zur Verfügung standen, hatte die Hausverwaltung ihr für dreißigtausend Yuan den Ankauf einer eigenen Stellfläche vorgeschlagen. Auch die Benzinpreise hatten angezogen, und damit war die Liste ständig steigender laufender Kosten noch lange nicht zu Ende.
Dennoch wollte sie ihren Traum von Shanghai verwirklichen – nicht nur ihretwegen, sondern auch für ihre Familie. Sie konnte eine Möglichkeit, wie die Heirat mit Xiang sie bot, nicht ignorieren, das hatte ihre Kollegin Yaqing ganz richtig gesehen. Dass Xiang ständig beschäftigt und im Grunde mit seiner Firma verheiratet war, sprach eher für als gegen ihn. Genau wie Chen war er süchtig nach Arbeit.
Im Rückblick erschien ihr der Flirt mit dem Oberinspektor die Folge von momentaner Eitelkeit und Schwäche zu sein. Die Bekanntschaft mit einem hochrangigen Kader war ihrer Karriere nützlich, ebenso wie ihr der Abdruck seiner Werke in ihrem Ressort angerechnet werden würde. Außerdem war sie ihm in einem Moment begegnet, wo Xiang ohne ein Wort aus der Stadt verschwunden war und sich tagelang nicht bei ihr gemeldet hatte.
Und da hatte sich die Sache in einer Weise entwickelt, die nicht vorauszusehen gewesen war.
Doch jetzt war Xiang zurück – noch dazu mit einer plausiblen Erklärung für sein Verhalten – und hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, wobei er ihr mit leidenschaftlichen Worten den Ring über den Finger streifte: »Als ich den Geschäftsabschluss in Hongkong unter Dach und Fach hatte, wurde mir plötzlich klar, dass mir Erfolg nichts bedeutet, wenn ich ihn nicht mit dir teilen kann.«
Wenn sie ehrlich war, hatte sie diesen Antrag längst erwartet. Er war Xiang nicht leichtgefallen, denn sein Vater hatte sich eine andere Schwiegertochter gewünscht, eine, die geschäftlich gewinnbringender war und ihn mit einer reichen Familie in der Stadt verband. Aber am Ende hatte Xiang seine eigene Entscheidung getroffen, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem sie es am wenigsten erwartet hatte. Sie konnte einfach nicht ablehnen.
Aber wie sollte sie Chen das erklären?
Offenbar hatten sie beide die Begegnung im Garten des Schriftstellerverbands nicht wirklich ernst genommen, überlegte Liangping. Der Funke zwischen ihnen war erst an jenem Nachmittag in Shaoxing übergesprungen, als sie im Shen-Garten von dem Echo romantischer Gedichte und Liebesgeschichten umgeben waren. Aber ironischerweise hatte sie zugleich gespürt, dass sich zwischen ihnen beiden nichts Ernsthaftes entwickeln würde. Es lag nicht daran, dass Chen mit Leib und Seele Polizist war, und auch nicht an den Rätseln, die er ihr aufgab, vielmehr hatte er sie auf ähnliche Weise enttäuscht wie Xiang, nur dramatischer.
Sie tastete in ihrer Handtasche nach dem Buch mit den übersetzten Gedichten, das er ihr gegeben hatte. Während sie aus dem Fenster sah, kamen ihr ein paar Zeilen daraus in den Sinn:
Sie lehnt am Fenster / schaut über den Fluss, / wo Tausende Segel vorbeiziehen – / doch keines bringt den Ersehnten. / Schräg scheint die
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