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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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ihn offensichtlich erkannt hatten. Mit gesenktem Kopf ging er weiter. An der Yan’an Lu musste er an einer roten Ampel warten, bevor er die Straße überqueren konnte.
    Im Existenzialismus resultierte die Freiheit gerade daraus, dass man eine Entscheidung traf und sich den Konsequenzen stellte. Aber was tun, wenn diese Wahl auch für andere Konsequenzen mit sich brachte?
    Für seine Mutter zum Beispiel.
    Die Ampel sprang auf Grün.
    Als er aufblickte, fiel ihm an einer Fassade das goldene Logo »Ruikang« ins Auge. Das Gebäude war weder neu noch besonders hoch, dennoch war der Quadratmeter in dieser ausgezeichneten Lage mit Sicherheit nicht unter dreißigtausend Yuan zu haben.
    Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass Lianping in dem Gebäude wohnte. Am Abend nach dem Konzert hatte sie ihm erzählt, sie wohne in diesem Apartmenthaus mit dem goldenen Logo, ganz in der Nähe seiner Mutter und nur einen Block hinter dem Great-World-Vergnügungszentrum, das vor hundert Jahren errichtet worden war und jetzt restauriert wurde. Für eine Auswärtige hatte sie es ganz schön weit gebracht: ein Apartment im Stadtzentrum, ein luxuriöser Wagen – der Traum eines jeden Shanghaiers.
    Er ließ den Blick über den Parkplatz schweifen, konnte ihren Wagen aber nirgendwo entdecken. Vielleicht hatte sie ihn hinter dem Haus abgestellt. Chen war jetzt gar nicht in der Stimmung für einen Besuch, wunderte sich aber, weshalb seine Gedanken trotz der sich anbahnenden Krise immer wieder zu ihr zurückkehrten.
    Das lag vermutlich daran, dass sie ihm bei den Ermittlungen geholfen hatte. Ihre zynische Kritik an der hemmungslosen Korruption im Sozialismus chinesischer Prägung beeindruckte ihn. Sie hatte sich ihm gegenüber freimütig geäußert, obwohl er sie erst kürzlich kennengelernt hatte und ihren richtigen Namen, Lili, erst seit ein paar Tagen kannte. Dennoch war er sich der Kluft bewusst, die sie beide trennte. Ihrer beider Hintergrund und der jeweilige Blick auf die heutige Gesellschaft waren grundverschieden, vom Altersunterschied ganz zu schweigen. Trotzdem musste er zugeben, dass sie seine Polizeiarbeit entscheidend beeinflusst hatte. Sie hatte ihn nicht nur in die Welt des Internets eingeführt, sondern ihm auch gezeigt, wie die Leute es für ihren Protest und zur Bloßstellung korrupter Beamter nutzten. Sie war es auch gewesen, die den Ausflug nach Shaoxing vorgeschlagen hatte, und vorher hatte sie ihn mit Melong zusammengebracht; beides hatte ihn in seinen Ermittlungen weitergebracht.
    Wieder einmal verbot er es sich, anders als in dienstlichen Zusammenhängen an sie zu denken. Er ging die Guangxi Lu entlang und blieb an der Ecke Jinling Lu abrupt stehen.
    Dort entdeckte er ein Internetcafé namens Fliegendes Pferd, ebenjenes, von dem aus laut Sheng das Originalfoto zu Melong geschickt worden war. Auch Melong hatte damals in dem Nudelrestaurant erwähnt, dass das Internetcafé ganz in der Nähe sei.
    Neben dem Fliegenden Pferd lag eine Kräuterapotheke. Die Warteschlange vor der Apotheke verdeckte den Eingang des Cafés, doch im Näherkommen stellte Chen fest, dass es wie andere seiner Art rund um die Uhr geöffnet hatte.
    Auf einmal fiel ihm etwas ein, das er womöglich übersehen hatte, und der Gedanke ließ ihn unwillkürlich erschaudern. Er überquerte die Straße und betrat das Café. Das schmächtige Mädchen am Eingang fragte mit schläfrigem Gähnen nach seinem Ausweis. Auch hier galten jetzt die neuen Regeln, nach denen Gäste sich ausweisen und in ein Buch eintragen mussten.
    Chen zeigte ihr seinen Dienstausweis und deutete auf das Buch.
    »Ich brauche eine Kopie aller Einträge dieses Monats.«
    Ungläubig blinzelte sie ihn an, während sie versuchte, wach zu werden.
    »Mein Chef wird nicht vor acht Uhr hier sein.«
    »Der braucht uns nicht zu kümmern. Hier ist meine Karte, falls er Fragen hat, soll er mich anrufen. Und jetzt geben Sie mir das Register. Sie haben doch bestimmt irgendwo einen Kopierer. Es wird nicht länger als zehn Minuten dauern. Selbstverständlich bezahle ich Ihnen die Seiten.«
    Sie zögerte, dann drückte sie einen Knopf, und der Besitzer, ein stämmiger Mann mit großem Kopf und breiten Schultern, erschien. Als er Chen wiedererkannt und dessen Position zur Kenntnis genommen hatte, sagte er verblüfft: »Was führt Sie zu mir, Chef?«
    »Du bist das also, Eisenkopf Diao. Das war doch dein Spitzname, oder?«
    »He, du erinnerst dich noch an mich. Wir sind in dieselbe Grundschule gegangen, aber du

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