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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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herein.«
    »Was gibt es denn?«
    »Nichts Besonderes, aber nächste Woche hast du Geburtstag. Den müssen wir unbedingt feiern, Mutter. Das wollte ich mit dir besprechen.«
    »Eine alte Frau wie ich braucht keine Feier, aber offenbar ändern sich die Zeiten. Einige deiner Freunde haben auch schon angerufen und mir ihre Pläne für ein Geburtstagsfest mitgeteilt.«
    »Na, siehst du, alle wollen dich feiern.«
    »Gestern war Peiqin hier und hat mehrere Gerichte vorbeigebracht, die sie extra für mich gekocht hat. Das ist wirklich reizend von ihr, aber völlig unnötig, wo ich doch jetzt eine Haushaltshilfe habe. Aber Peiqin hat darauf bestanden, weil ich stärkende Speisen essen soll. Sie hat angeboten, für den Geburtstag zu kochen. Und neulich kam Weiße Wolke vorbei, sie will einen großen Geburtstagskuchen besorgen.«
    »Das ist wirklich nett von ihnen«, entgegnete er. Bei der Erwähnung von Peiqin und Weißer Wolke bekam er sofort ein noch schlechteres Gewissen. Die einzige Sorge, die die alte Dame in der Welt des roten Staubs noch hatte, war die Tatsache, dass ihr Sohn unverheiratet war. Während Peiqin in ihren Augen die musterhafte Hausfrau und Mutter war, hatte Weiße Wolke zeitweilig als mögliche Kandidatin gegolten. Aber auch wenn Chen noch bisweilen an sie dachte, hatten sie sich schon lange nicht mehr gesehen, was allein seine Schuld war. Er musste an ein Lied denken, das sie einst in einer schummrigen Karaoke-Bar für ihn gesungen hatte.
    »Du bezeichnest dich als Sandkorn, / das mir mutwillig ins Auge flog. / Lieber lässt du mich einsam um dich weinen, / anstatt von mir geliebt zu werden, / denn dann kannst du jederzeit mit dem Wind davonfliegen, / wie ein Körnchen Sand …«
    Es war ein schnulziger Schlager mit dem Titel »Schluchzender Sand«, aber die Melodie hatte sich in seinem Kopf festgehakt. Die Leute wurden immer dann sentimental, wenn es zu spät war.
    Chen schälte einen Apfel für seine Mutter. Als er die Stücke auf einem Unterteller auf das Beistelltischchen stellen wollte, hätte er beinahe die Teetasse umgestoßen.
    Sein Besuch bei ihr war der offensichtliche Versuch, die unumgängliche Entscheidung noch ein bisschen hinauszuschieben.
    »Was beschäftigt dich, mein Sohn?«, fragte seine Mutter prompt und schob ihm eines der Apfelstücke hin.
    »Keine Sorge, es ist alles in Ordnung. Aber manchmal können die Dinge ziemlich kompliziert sein in unserer heutigen Gesellschaft.«
    »Ja, diese Welt ist zu neu und zu kapriziös für eine alte Frau. Du weißt ja, ich lese gern in buddhistischen Traktaten. Da heißt es, der Mensch könne nur schwer hinter die Dinge blicken. Was wir sehen, ist lediglich die äußere Erscheinung, sie gleicht einem Traum, einer Luftblase, einem Tautropfen oder Blitz. Das gilt auch für uns selbst.«
    »Du hast ja so recht, Mutter.«
    »Man kann es sich auch wie ein Gemälde vorstellen: Wenn man mittendrin ist, verzerrt sich der Blickwinkel, und man sieht die Dinge nicht in der richtigen Perspektive. Vor allem sieht man sich selbst nicht als Teil des Bildes. Erst aus der Distanz erkennt man, was einem zuvor verborgen blieb. Die Einsicht kommt erst, wenn man nicht länger Teil des Geschehens ist.«
    Ihn erinnerte das eher an Zeilen des Song-zeitlichen Dichters Su Shi, aber für seine Mutter kamen solche Erkenntnisse aus den buddhistischen Schriften. Er war froh, dass sie ihre eigene Sichtweise hatte und trotz ihrer angeschlagenen Gesundheit noch völlig klar dachte. Aber ihre Bemerkung war in gewisser Weise auch beunruhigend.
    »Ich erinnere mich an etwas, das dein Vater gern zitiert hat: Es gibt Dinge, die ein Mann tun kann, und Dinge, die ein Mann nicht tun kann «, sagte sie unvermittelt. »So einfach ist das, dem ist nichts hinzuzufügen.«
    Es war ein Ausspruch von Konfuzius. Chens verstorbener Vater war ein bedeutender neokonfuzianischer Denker gewesen, der auch für sich selbst klare Grenzen gezogen hatte. Entsprechend hatte er während der Kulturrevolution zu leiden gehabt.
    Wo würde Oberinspektor Chen für sich die Grenze ziehen?
    Bald merkte er, dass seine Mutter müde wurde. Sie gähnte wiederholt, nicht einmal den Apfel, den er für sie geschält hatte, hatte sie aufgegessen. Offenbar war sie immer noch nicht ganz bei Kräften, und er wollte sie nicht weiter ermüden. Also verabschiedete er sich und zog leise die Tür hinter sich zu.
    Während er durch die Gassen ging, fühlte er immer wieder die neugierigen Blicke von Passanten auf sich gerichtet, die

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