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Aasgeier

Aasgeier

Titel: Aasgeier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter J. Kraus
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niemals angenommen, dass Julie zulässt, dass auf den Kleinen und mich geschossen wird.
     
    Dort, auf der Wiese im Ölfeld, an einem wunderschönen Julinachmittag, wurde mir endlich klar, dass wir uns in allerhöchster Gefahr befanden. Ricky und ich. Die würden vor nichts haltmachen. Und Julie schien nicht zu stören, dass unser Sohn ebenso gefährdet war wie ich. An dem paradiesischen Nachmittag sah ich ein, dass wir nie wieder eine Familie sein könnten. Und dass ich jetzt handeln musste. Für meinen Sohn und für mich.
     
    „Winke schön auf Wiedersehen", sagte ich Ricky. „Wir müssen jetzt weg, und die Mama kann nicht mitkommen. Winke ihr, und dann halte dich fest.“
    Er heulte wie ein Schlosshund, der Winzling, heulte Rotz und Wasser, schniefte und rieb den Ärmel über feuchte Stellen und heulte sofort wieder los. Was sollte ich dazu sagen? Anlügen würde ich ihn auf keinen Fall. Ihm erzählen, dass die Mami noch mal schnell weg muss und sicher bald wiederkommt? Eher hätte ich mir die Zunge abgebissen. Ich würde ihn nicht belügen. Lieber ausheulen lassen und irgendwann die Wahrheit sanft vor ihm ausbreiten. So, dass er verstehen konnte, dass es nicht seine Schuld war, dass die Mutter nicht mehr mit uns sein wollte. Aber nicht lügen. Wir wurden schon zur Genüge belogen.
     
    Ein paar Kilometer weit im Gelände, in einem schmalen, sanften Tal hielt ich an. Stellte das Auto in ein Eukalyptuswäldchen, nahm eine Plastikflasche Trinkwasser aus der Kühlbox und wusch erst mal Rickys Gesicht und Hände. Er hatte sich zusammengerollt, lag auf dem Sitz und schluchzte nur.
    Ich stieg aus, ging um den Jeep herum und hob ihn aus dem Auto. Dann trug ich ihn unter einen Baum, kauerte im Schatten und drückte meinen Sohn fest an mich. So saßen wir, und so schliefen wir ein.
     

 
     
     
    21 Carrizo Plain
     
     
    Wir waren spät losgefahren. Hatten unterm Baum gute drei Stunden geschlafen, und als wir aufwachten, wollte die Sonne gerade untergehen. Es wurde angenehm kühl, ich schlug Ricky vor, zur gegenüberliegenden Seite der Weide zu gehen, weil dort eine kleine Herde dunkelbrauner Kühe unter Ölpumpen lag. Ricky sprach kein Wort, antwortete auch nicht, als ich versuchte, ihm die Kühe schmackhaft zu machen. Also ließ ich es. Soll er mit seinem Schmerz selber fertig werden, der Kleine. Ich sagte ihm nur, dass ich ihn immer lieb habe und er mich jederzeit alles fragen und mir sagen kann, aber er schaute mich nur aus verweinten Augen an. Mir wollte an diesem Nachmittag dauernd das Herz brechen.
     
    Meine Mutter rief ich von unterwegs aus an. Mir war klar, dass Julie irgendwann mal drauf kommen musste, dass wir in Pismo waren. Sie wusste, dass ich mit meiner Mutter nicht gerade glänzend auskam, wusste aber auch, dass ich Ricky nicht einfach abstellen würde. Der brauchte jemanden, dem er vertrauen konnte, der ihn liebte, und außer meiner einzigen Verwandten hatte ich niemanden, auf den das zutraf. Also bat ich sie, mir zu sagen, wo sie in einer Stunde sein würde. Sie kapierte sofort, was mich nicht mehr wunderte.
    „Ich gehe meine Freundin besuchen, die mit den Wasserpistolen.“ Ihre älteste Freundin, die Witwe Holloran, die schon zu meiner Kindheit ohne Mann war und mich als Ersatzkind furchtbar verwöhnte. Mutter erinnerte sich – ich durfte keine Spielzeugwaffen haben, weil sie Pazifistin war. Also bin ich gelegentlich zur massiven Holloran, habe mich von ihr an die weiche Brust drücken lassen und wurde jedes Mal mit einem Einkaufsbummel ins Spielwarengeschäft belohnt. Später, als ich zum ersten Mal wegen Kiffens ins Loch ging, kam sie mit der Kaution und holte mich raus. Weil ich sie anrief, statt meine Eltern. Da war ich dreizehn, hatte vor meinem Alten furchtbare Angst und wäre lieber sitzen geblieben als meine Mutter vom Stadtknast aus anzurufen.
     
    Ich hielt ein paar Straßen weiter und spazierte im Dunklen mit Ricky an der Hand auf Umwegen zur Villa des alten Richters Holloran, der sich gleich nach Fertigstellung seines protzigen Heimes im damals noch unbepflanzten Garten eine Kugel setzte, weil seine Sekretärin schwanger war und das als unüberwindbares Karrierehindernis galt. Wie sich die Zeiten ändern.
     
    Das Licht über der Haustür brannte, die Veranda war hell erleuchtet, aber der Seiteneingang war stockfinster. Ich probierte die unverschlossene Küchentür. Stellte sich heraus, dass Witwe Holloran meinem Sohn die gleiche Zuneigung geschenkt hatte, die ich von ihr erfuhr.

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