Ab 1000 Meter wird geduzt!: Aus dem abgefahrenen Leben eines Skilehrers (German Edition)
Tag schwerer wurde. Stuben war von der Außenwelt abgeschnitten, keiner kam raus, keiner kam rein. Die Lifte standen still, draußen war es grau, und der lautlos fallende Schnee legte sich schwer aufs Gemüt.
Mittlerweile waren fast fünf Tage vergangen, verständlich, dass auch in unserer Gaststube nicht mehr gesungen und gefeiert wurde. Nun herrschte Ausnahmezustand:
Selbst die kleinen Seitengässchen in Stuben wurden gesperrt, weil die Schneeberge in den Himmel wuchsen. Es war seltsam ruhig im Dorf, eine unheilvolle Stille, und ich wusste im Geheimen, dass an diesem Abend etwas passieren würde. Ich hatte es im Gespür. Würde eine Naturkatastrophe über uns hereinbrechen? Es wäre nicht das erste Mal, dass Stuben von einer gewaltigen Lawine heimgesucht werden würde. Nur die möglichen Auswirkungen konnte niemand absehen.
Edeltrud, unsere 16-jährige Tochter Eva-Maria und ihr sechs Jahre jüngerer Bruder Willi junior waren zum Nachtmahl im Lokal. Alle Tische waren zwar voll besetzt, auch an der Theke kein Platz mehr frei, aber die Stimmung war gedrückt. Die Musik hatte ich leiser gestellt, ab und zu ging die Tür auf, und ein Gast kam vollkommen mit Schnee bedeckt herein, wahrscheinlich in der Hoffnung, hier würde seine Laune besser, aber das war ausnahmsweise nicht der Fall. Auch mir war nicht nach Späßen zumute. Ich war sicher nicht ängstlich oder leicht zu erschüttern, aber nun spürte auch ich die Bedrohung, die sich da draußen an den Bergen zusammenbraute – und ich war in großer Sorge. Ein paar Tage Schneefall hatten wir bisher immer zünftig feiernd, singend und lachend in der warmen Stube verbracht, aber diese Situation stellte unsere Nerven auf eine Zerreißprobe.
Nach dem Essen standen Edeltrud und die Kinder auf, sie wollten hoch in die Wohnung. Irgendetwas in mir war in höchster Alarmbereitschaft, ich bat meine Frau zu mir und flüsterte: »Bitte bleibt heute Abend alle zusammen im ersten Stock.« Unsere Tochter Eva hatte mittlerweile ihr Zimmer im zweiten Stock, aber ich wollte sie nicht über die Wohnung verstreut wissen. »Bleibt so nah zusammen, wie es nur geht.«
Einige Gäste schauten sorgenvoll, doch ich tat gut daran, sie nicht mit meinen düsteren Vorahnungen zu behelligen. Ich war nicht nur für Leib und Leben, sondern auch für das Seelenheil meiner Gäste verantwortlich. Und eine Panik konnten wir am allerwenigsten gebrauchen.
Auch Edeltrud war nervös, zögernd schob sie die Kinder die Treppe herauf. Was sich danach oben in der Wohnung abspielte schilderte meine Frau später so:
»Gegen 22 Uhr gingen wir zu Bett. Eva-Maria wollte unbedingt in ihrem Bett schlafen, wahrscheinlich hatte sie die Anweisung ihres Vaters eher als Rat angesehen, den man aber nicht unbedingt befolgen musste. Ich verfrachtete sie gegen ihren Willen ins Kinderzimmer, das sich neben unserem Schlafzimmer befand, und der kleine Willi kuschelte sich zu ihr ins Bett. Mit seinen zehn Jahren fühlte er sich dort am sichersten. Natürlich spürten auch unsere Kinder diese apokalyptische Stimmung, sagten aber nichts.
Kurze Zeit darauf rief unsere Tochter nach mir: Mama, kannst du bitte zu mir kommen, ich muss dir dringend etwas sagen!
Typisch Teenager. Wahrscheinlich wollte sie mir eine Liebesgeschichte erzählen. Oder sie hatte einen Wunsch, der dringend erfüllt werden sollte. Vielleicht hatte sie aber auch Sorgen, über die sie sprechen wollte. Muss das jetzt noch sein? Ja, Mama, bitte komm! Ich aber wollte nicht mehr aufstehen, und so lief Eva ins elterliche Schlafzimmer und kroch zu uns ins Bett. Und, was musst du mir so dringend erzählen? Kaum hatte ich es ausgesprochen, da fegte ein von einem lauten Tosen begleiteter Luftzug durch das Haus. Eine gewaltige Lawine donnerte über unser Haus hinweg. Danach herrschte Totenstille. Überall. Im ganzen Ort.«
Selbst im »Pilsstüble«, das bis zum letzten Platz gefüllt war, hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Natürlich hatten wir das alles auch unten im Lokal gespürt, denn die Schneemassen schoben sich über den Eingangsbereich herein und vom ersten Obergeschoss herunter. Hier hatte der Schnee die Möglichkeiten ins Treppenhaus, durch die Haustüre oder eben zu uns ins Lokal zu kommen, was er auch tat: Die Eingangstür wurde aufgestoßen, und der Schnee drang ein! Vor der Haustüre türmten sich die Schneemassen bis zu drei Meter hoch. Panik erfasste mich, ich wusste, dass meine Familie dort oben unter den Schneemassen lag. Äußerlich
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