Ab ins Bett!
aussehen.
»Sind Sie von der Stadtverwaltung?« fragt er mich.
»Hör gar nicht hin, der hat sie nicht alle«, sagt meine Großmutter sachlich.
Der alte Mann sieht sie scharf an. »Mit der brauchen Sie gar nicht erst reden«, sagt er. »Taub. Und verrückt.«
Als ich wieder zu meiner Großmutter hinsehe, nickt sie in seine Richtung und tippt sich gegen die rechte Schläfe. Wir stehen in einem Dreieck, beide gucken mich an.
»Sie sollten sie lieber in ihr Zimmer zurückbringen.«
»Wenn wir aussteigen, rufen wir die Schwester, damit sie ihn holt.«
»Nichts mehr zu machen, wenn man erst mal in ihrem Alter ist.«
»Ich danke bloß Gott, Gabriel, daß ich geistig noch auf der Höhe bin.«
Im Erdgeschoß steigen wir aus und trippeln in Richtung Fernsehzimmer. Das Fernsehzimmer heißt so, weil in der Mitte ein riesiges altes Ferguson-Farbgerät steht, nicht weil hier irgendwer wirklich fernsehen würde. Als wir eintreten, läuft, wie immer, der Apparat, aber ich glaube kaum, daß die fünf oder sechs Pensionäre im Raum große Fans von The O-Zone sind. Drei schlafen. Ein anderer, Mr. Susskind, fixiert den Bildschirm mit starrem, unbeweglichem Blick, aber ich weiß, daß seine Augen nur einen Mann in SS-Uniform sehen, der seine Schwester verschleppt.
»Mrs. Hindlebaum!« ruft meine Großmutter. »Mrs. Hindlebaum!«
Mrs. Hindlebaum, die noch winziger als Mutti ist, hat eine piepsige Stimme und einen Schnurrbart, für den Joe Stalin zum Mörder geworden wäre. Sie guckt mir bereits freundlich entgegen, aber das spielt für meine Oma keine Rolle. »Mrs. Hindlebaum!« ruft sie noch viel lauter. »Gucken Sie mal, wer hier ist. Gabriel! Irenes Junge!«
»Ja, ich weiß«, sagt Mrs. Hindlebaum. »Wie schön, dich zu sehen.« Mrs. Hindlebaum sitzt auf einem roten Pseudosamt-Sofa an der hinteren Wand, vor ihr die Reproduktion eines antiken Kaffeetischs, dessen Glasplatte mit den runden Abdrücken unzähliger Tassen übersät ist. Meine Großmutter kennt Mrs. Hindlebaum seit über dreißig Jahren, aber ich wette, ihren Vornamen weiß sie nicht.
»Setz dich«, sagt meine Großmutter. »Möchtest du eine Tasse Tee?«
Trinken und essen kann ich im Liv Dashem-Heim nicht. Das ist dumm und voreingenommen von mir - alles wirkt völlig hygienisch —, aber Tatsache bleibt, daß sie hier noch soviel Veilchenduft in den Räumen versprühen können, es riecht trotzdem noch ein bißchen nach Inkontinenz, nur ein winziges bißchen.
»Nein danke.«
»So«, sagt meine Großmutter und läßt sich neben Mrs. Hindlebaum auf dem Sofa nieder. »Und jetzt erzähl uns von der jungen Dame. Tina!«
Ich ziehe mir einen orangenen Plastikstuhl heran. »Dina.«
Meine Großmutter runzelt die Stirn. »Deine Mutter hat eindeutig Tina gesagt.« Was für meine Großmutter bedeutet, daß es
Tina ist. Für sie ist meine Mutter in doppelter Hinsicht wie der Papst: in Polen geboren und unfehlbar.
»Nein, wirklich, sie heißt Dina.«
»Egal wie«, sagt Grandma in einem Ton, aus dem ihre Überzeugung klingt, daß ich mit der Zeit schon Vernunft annehmen werde. »Und du gehst schon zwei Monate mit ihr!«
»Nicht ganz zwei Monate... «
»Du hättest sie mitbringen sollen. Ich würde sie ja so gern kennenlernen!«
Ich überlege, wie das gewesen wäre. Erste Verabredung, ein mißglückter Ausflug ins Stadion, inbegriffen Rückkehr mit einem Grüne Flagge-Mann. Zweite Verabredung, ein Ausflug in ein jüdisches Altersheim.
»Ist sie jüdisch?« fragt Mutti, wobei ihre Stimme am Ende des Satzes hochhüpft wie ein Skispringer.
Ich schweige. Dann sage ich etwas Dummes: »Ja.« Na ja. Sollte es je zu einer Begegnung zwischen den beiden kommen, dann bringe ich Dina vorher ein bißchen Jiddisch bei. Sage, ihr Dad war einer dieser äthiopischen Juden — wie heißen sie noch mal? Ach ja, Falaschas. Oder noch besser: Sammy Davis Junior.
Mutti ist so hocherfreut, daß sie in die Hände klatscht. »Oh, Gabriel!«
»Mutti, die Sache ist noch ganz frisch. Noch nichts Ernstes.«
»Zwei Monate und nichts Ernstes?«
»Genau.«
Sie guckt Mrs. Hindlebaum an und zuckt mit den Achseln. »Nach zwei Monaten hat mir mein Josh einen Heiratsantrag gemacht.« Sie behält die Schultern ewig lange oben; es sieht aus wie die letzte Einstellung in einer dieser amerikanischen Komödien, und ich rechne jeden Moment damit, die Schlußmelodie der Eva Baumgart-Show zu hören. Meine Großmutter ist ziemlich schnell bei der Hand mit ihrem Achselzucken, auch wenn ihr Repertoire
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