Ab ins Bett!
Hinsicht bis aufs Haar, außer daß die ältere, Lydia glaube ich, neben dem rechten Nasenflügel eine wabblige braune Warze hat, die groß genug ist, einen Mantel daran aufzuhängen. Seit ihr Vater 1952 starb, tragen sie und ihre Schwester Lotte nur Schwarz. Jetzt sitzen sie dicht beieinander auf zwischen die Betten gerückten Holzstühlen, die aussehen wie die in Klassenzimmern. Auf dem rechten der beiden Zwillingsbetten mit den lila Zwillingstagesdecken sitzt mit schlohweißem Haar und, wie immer, in marineblauem Kleid meine Großmutter. Ihre Füße reichen nicht auf den Boden.
»Tag, Mutti«, sage ich.
Sie guckt hoch. Ein paar Sekunden ist ihr Gesicht häßlich, verzerrt vor Angst und Abscheu, von Erinnerungen an andere große, unbekannte Männer, die durch die Türen in ihrem Elternhaus brachen. Schließlich dringt Licht durch die Ritze ihres grauen Stars, und ihr Gesicht hellt sich zu einem Lächeln auf, einem unglaublich willkommenheißenden Lächeln.
»Gabby!« ruft sie, vergißt, daß sie dreiundachtzig ist und will aufspringen. »Wie schön, daß du gekommen bist!«
Ich gehe hin, um ihr aufzuhelfen: Ich bin bloß 1,72, aber selbst ohne ihren gebeugten Rücken reicht mir Mutti bloß bis an meinen Solarplexus. Ich küsse sie auf ihre weiche, faltige Wange.
»Wie geht es dir?« sagt sie. Sie wartet meine Antwort nicht ab. »Na, ich muß schon sagen, das war aber eine schnelle Reaktion auf meinen Brief. Lotte! Lydia! Es ist Gabby! Mein Enkel!«
»Guten Tag!« sagt Lydia.
»Guten Tag!« sagt Lotte.
»Kannst du uns helfen?« sagt Lydia. »Sie stürzen ohne anzuklopfen in unser Zimmer. Und nie sagen sie uns, wenn unsere Freunde angerufen haben.«
»Hör gar nicht hin«, sagt meine Großmutter in einer Stimmlage, die wohl als Flüstern gedacht ist, aber, da meine Grandma fast taub ist, eher als schallender Ruf herauskommt, »es stimmt nicht.« Das weiß ich, aber ich nicke, als sei es eine Neuigkeit. »Nun, meine Lieben«, fährt sie fort, »jetzt wo Gabby hier ist, muß ich mich von euch verabschieden.«
»Aber all unsere Sachen sind in Acton!«
»Also, leb wohl«, sagt meine Großmutter und zupft mich am Ärmel. Ich gehe rückwärts zur Tür hinaus, ein leeres Lächeln im Gesicht.
»Aber Eva! Junger Mann! Ihr müßt uns helfen!«
Wir gehen den Korridor entlang. Ich habe meine Grandma untergehakt und muß mich zu winzigen Schritten zwingen, damit ich nicht zu schnell für sie bin. Sie schüttelt den Kopf.
»Diese beiden! Ich weiß nicht, was sie immer haben. Aber ich freue mich ja so, daß du gekommen bist. Was...«
»Wir dürfen nicht mal unsere eigene Toilette benutzen!!«
Ich drehe mich um und sehe, wie gerade die Kante von Lydias Gehgestell aus der Zimmertür ragt.
»Schnell«, sagt meine Grandma mit entschlossenem Gesicht. Wir kommen mit ungefähr zehn Stundenmeter voran - Lydia mit ungefähr zwei aus ihrer Tür. Wahrscheinlich läuft hier die langsamste Verfolgungsjagd in der Geschichte der Verfolgungsjagdszenen ab.
»Und sie kümmern sich nicht um Lottes Wäsche!!«
Die Wilhelm Teil-Ouvertüre spielt in meinem Kopf; mit mehr kann ich nicht dagegen ankämpfen, mich umzudrehen und auf Lydia zu warten, und dann, wenn sie mich fast eingeholt hat, wieder loszurennen, mir Mutti über den Kopf zu schwingen und zu winken. Zweieinhalb Minuten später sind wir schon fast um die Ecke. Lydia hat keinen einzigen Meter aufgeholt, aber als ich noch mal kurz zur Tür der beiden zurückblicke, habe ich das schreckliche Gefühl, die erste Speiche von Lottes Rollstuhl zu erkennen. Es ist wie irgendein schrecklicher Vier-mal-Vierhundertmeter-Staffellauf.
»Schneller«, sagt Mutti wieder, absurderweise, denn, um ehrlich zu sein - ich könnte ja. Der Aufzug kommt in Sicht.
»Es ist ganz in der Nähe von der North Circular Road. Du könntest morgen hinfahren!«
Als wir’s bis zum Aufeug geschafft haben, drücke ich auf den Knopf. Der Silberkreis leuchtet auf. Ich drücke noch mal und noch mal, als würde das den Lift beeindrucken. Komm schon: Wir haben bloß fünfunddreißig Minuten Zeit. Als er endlich hält, biegt Lydia gerade um die Ecke.
»Nein«, ruft sie, als sie uns einsteigen sieht. Und ich komme mir ziemlich gemein vor, denn selbst wenn ihr Gerede, wie Grandma sagt, nicht stimmt, so ist es wahrscheinlich einfach Lydia Frindels Art, »bitte bleibt« zu sagen.
Im Fahrstuhl ist ein alter Mann mit so dicken Brillengläsern, daß seine Augen dahinter wie eine neue genetische Stielaugenversion
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