Ab ins Bett!
irgendein Wagen vom Typ Volvo-Kombi. Die Sonne scheint grell - zum ersten Mal in diesem Jahr, soweit ich mich erinnere -, als ich darauf warte, daß die Silhouette einer Schwester durch das feuersichere Milchglas der Eingangstür sichtbar wird.
Nachdem ich mich für heute abend mit Dina verabredet hatte, fühlte ich mich ein bißchen verloren. Ich holte meine, aus einer i960 Encyclopaedia Britannica herausgerissene, Weltkarte hervor und begann eine Liste von Reisezielen herauszuschreiben, die ich und Dina ansteuern könnten, wenn wir je zusammen auf Weltreise gingen, aber mitten im Hinschreiben von »Bechuanaland Protectorate« wurde ich deprimiert und warf die Liste weg. Dann, auf dem Rückweg von -der Foodworld in der High Road, wo ich zwei Pakete Tofu und ein Glas Tandoori-Paste gekauft hatte, bekam ich plötzlich Schuldgefühle: Hier lief ich rum, war in einem Zustand wie sonst immer kurz vor einer Party, das heißt einer Mischung aus Vorfreude und Panik, während meine Großmutter allein und briefeschreibend in einem abgewetzten Sessel sitzt und hofft, daß bald sieben oder acht Stunden vorüber sind. Wo ist ihr Vor-Party-Gefühl? Im Liv Dashem-Heim gibt es zwar auch eine Party, zu Chanukka, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß eine Extraportion Kneidlach und die Chance, ein paar Kerzen anzuzünden, bei den Bewohnern ein Gefühl zwischen Lust und Angst auslöst, und selbst wenn, bezweifle ich, ob sie es von der normalen alltäglichen Lustangst unterscheiden können, die der schleichende Tod mit sich bringt. Also schüttete ich Tofu und Tandoori-Paste in eine Auflaufform und ließ das Ganze zum Marinieren stehen (der Trick dabei ist, es nicht abzudecken, damit die Paste trocken und krustig wird; wenn es soweit ist, schnell einen Deckel drauf und in die Mikrowelle stellen: Das Ergebnis sieht haargenauso aus wie aus einem indischen Restaurant), und da die Stadtautobahn nach Edgware direkt am Ende meiner Straße beginnt, beschloß ich, meine Großmutter zu besuchen.
Sie ist eine nette alte Dame, meine Grandma. Ich würde wirklich viel öfter herkommen und sie besuchen, empfände ich das Liv Dashem-Heim, wie Sie sich vielleicht denken können, nicht als eine Art Mahnmal an meine eigene Sterblichkeit. Und daran brauche ich wirklich nicht erinnert werden, da ich dauernd daran denke, seit jenem Tag, als ich zum ersten Mal davon hörte. »Tod«, sagte meine Mutter zu mir, als ich fünfeinhalb war, und beendete damit das Gespräch darüber, was für eine Sorte Auto die große schwarze Limousine war, die gerade vorüberfuhr, »ist wie ein langer Schlaf, aus dem du nie wieder aufwachst.« Danke, Mum. Kein Wunder, daß ich ab da keine Lust mehr hatte, mich nochmal auf dieses Risiko einzulassen. Angeblich soll es einen überkommen, wenn man um die vierzig ist - jener Schatten, jene endgültige, unverrückbare Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit. Ich erinnere mich, wie sie mich in jener Nacht ergriff, während ich auf meine Flugzeug-Tapete starrte - und seitdem so gut wie jede Nacht.
Die Schwester, die die Tür öffnet, wirkt müde, ist Ende dreißig und schwarz. Ein Großteil des Personals in jüdischen Altersheimen ist schwarz, was ihnen das Gefühl von Mini-Südafrika der Prä-Mandela-Ära gibt.
»Ja?« fragt sie mißtrauisch.
»Ich möchte Eva Baumgart besuchen.«
Sie nickt, tritt zurück, um mich einzulassen. Ein alter Mann mit einem Spazierstock in der Hand sitzt auf einem orangenen Plastikstuhl in der Eingangshalle. Es gibt gemütlichere Plätze im Haus, aber ich stelle mir vor, wenn Sitzen erst mal das einzige ist, was man tut, dann sagt man sich nach einer Weile. »Na, warum nicht mal zur Abwechslung dieses Plätzchen ausprobieren.«
»Sie ist oben und besucht die Frindel-Schwestern. Zimmer 7.«
O nein. Die Frindel-Schwestern sind ein dreiundneunzigjähriges Zwillingspaar und, völlig zu Unrecht, überzeugt davon, daß das Liv Dashem-Heim zu jenen Altersheimen gehört, wo das Personal die Insassen schlägt. Die Schwester zeigt mir den Fahrstuhl, aber ich laufe die Treppe hoch; ich kann es schließlich noch. Hilft, diese morbiden Gedanken abzuschütteln.
Vor Zimmer 7 kann ich meine Großmutter laut auf Deutsch reden hören. Ich klopfe an.
»Ja?«
Ich öffne die Tür. Die Frindel-Schwestern erzählen mir jedesmal, ihre ganze Habe sei in einer Wohnung in Acton gebunkert, weshalb ihr Zimmer so unwohnlich sei, eine nackte Linoleum-Zelle mit einem Waschbecken an der Wand. Die beiden gleichen sich in jeder
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