Ab ins Bett!
wieder hochmodern, Irene!« sagt Simon. »Dann ist sie also eine kleine Disko-Mieze?«
Geschickt richtet er die Frage an niemand speziellen; eindeutig legt er es darauf an, uns zu verunsichern, wer nun der Informationsträger über Dina ist. Ich und Ben und Alice gucken uns dreischienig an. Eins ist klar. In diesem Fall bedeutet Wissen Besitz. Wer zuerst spricht, der sagt sie gehört mir.
»Ich gehe jetzt«, sagt Millie Gildart, die plötzlich neben uns steht und in ihrem schwarzen Überzieher und Baskenmütze wie eine Terroristin vom militanten Flügel der Grauen Panther aussieht. Wir alle machen Anstalten, uns zu erheben.
»Bleibt um Himmels willen sitzen«, sagt sie. »Abschiede sind kein Grund zum Aufstand. Begrüßungen vielleicht schon eher.« Sie geht um uns herum zu meiner Mutter. »Auf Wiedersehen, Irene.«
»Millie, hast du einen Wagen für den Heimweg?« fragt meine Mutter mit jenem leichten Hauch Vorwurf im Ton, der alten Leuten gegenüber so oft angeschlagen wird und der besorgt klingen soll.
»Einen Wagen?«
»Ein Taxi. Warte, ich rufe dir eins.«
»Wirst du wohl sitzenbleiben! Der Bus ist wunderbar.«
»Aber du mußt in Golders Green umsteigen!«
»Sei still, Irene: Es wird mich schon keiner überfallen. Golders Green ist schließlich nicht die Bronx!« Mit dem zufriedenen Ausdruck, unsinnige Einwände ein für alle mal abgewehrt zu haben, geht sie weiter zu Ben und Alice. »Tschüß, Ben. Tschüß, Alice.«
»Tschüß, Millie. Wir besuchen dich bald einmal«, sagt Ben.
»Ja, ja«, macht Millie sarkastisch. Ben wirkt irgendwie verletzt, und eine Sekunde sieht es so aus, als wolle er erklären, daß er es in der Vergangenheit nur so dahingesagt haben mag, es diesmal aber ernst meint. »Tschüß, Simon. Wir haben wieder nicht miteinander gesprochen, aber andererseits haben wir es letztes Mal auch nicht.«
Simon umschließt ihre Hand mit seinen beiden und guckt ihr tief in die Augen. »Aber das nächste Mal werden wir«, sagt er.
»Wer weiß, ob es ein nächstes Mal gibt.«
»Millie! Ich laß es nicht zu, daß du so redest. Du kommst noch längst nicht in den Himmel.«
»Warum?« sagt Millie kühl. »Haben sie die Türschlösser ausgewechselt?«
Simons Gesicht füllt sich mit Blut wie eine Transfusionsflasche. Millie geht weiter und läßt ihn wie ein olympischer Kunstspringer die Hände in der Luft aneinanderpressen.
»Auf Wiedersehen, Gabriel«, sagt sie. Dann hält sie inne und blinzelt mich an. »Du bist doch Gabriel?«
»Ja«, sage ich.
Sie nickt, beugt sich herab, so daß unsere Gesichter sich berühren, die Wellentäler ihrer Wange wie Blindenschrift an meiner.
»Wenn man erst mal in meinem Alter ist«, flüstert sie, »spielt das Augenlicht einem gern schreckliche Streiche.« Dann küßt sie mich, und schlurft, ohne sich um meine Reaktion zu scheren, davon, um sich von Mutti zu verabschieden, die immer noch auf dem anderen Sofa sitzt.
»Unglaublich!« sagt meine Mutter und schüttelt lächelnd den
Kopf. »Mit was unsere liebe, alte Millie auch immer herausrückt!« Wir alle stimmen ihr scheinheilig nickend zu, außer Simon, der in stummer Wut auf sein Stück von der Gdansk-Torte starrt. »Also, worüber hatten wir gerade gesprochen?« Kurzes Schweigen.
»Jerome Mandle«, Ben hat diese Eingebung.
»Ach wirklich?« sagt meine Mutter, guckt eine Sekunde verdutzt und legt dann los. »Also, ich muß schon sagen, sein neues Buch über die Jungfernfahrt nach Luzern — übrigens, zitiert mich aber bitte nicht —, wirklich, es strotzt vor Fehlern. Die simpelsten Dinge stimmen nicht. Die Kapitänskabine auf der Backbordseite! Na, ich bitte euch!«
Solange Simon weiter schmollt, ist es völlig aussichtslos, meine Mutter wieder von der Luftschiffahrt abzubringen. Vorläufig jedenfalls hat das heikle Dina-Thema ausgedient. Ich gucke derweil zum anderen Sofa hin, wo Mutti und Millie sich wie zwei bartlose Gartenzwerge gegenüberstehen.
»Auf Wiedersehen, Eva«, sagt Millie.
»Auf Wiedersehen, Miriam«, sagt Mutti. Ihre Hände berühren sich eine Sekunde, und mir fällt auf, daß Millie sich von meiner Großmutter völlig anders verabschiedet als von uns anderen, verhaltener und doch so, als hätte dieser Abschied mehr Gewicht. Ein wissender Blick wechselt zwischen ihnen, kein augenzwinkernder oder überlegener, nein, ein wissender im schlichten Sinne des Worts. Dann wird mir plötzlich klar, daß sie sich jenes besondere Adieu von alten Leuten sagen, die nicht so nah beieinander
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