Ab ins Bett!
Tee zu beherbergen. Jetzt kommt sogar mein Vater wieder zurück, knurrt mit gepreßtem Atem vor sich hin, wie man nicht mal in Frieden im Flur sitzen kann, ohne daß eine alte Schachtel daherkommt und einem den Weg nach Acton erklärt. Ich sitze bei Ben und Alice und Simon, der seine »Ich mag Anfang vierzig sein, aber ich rechne mich natürlich zu den jungen Leuten«-Karte ausspielt.
»Das hast du ihr geschenkt?« frage ich Ben und nehme das Buch in die Hand. »Lexikon jüdischer Sagen und Legenden« lese ich langsam vor.
»Na, du weißt doch«, sagt Ben und versucht mit einem Achselzucken jeglichen Eindruck zu verscheuchen, neuerdings steige er sehr auf sein Jüdischsein ein, obwohl er eigentlich wissen sollte, daß sich so was nicht mit einem Achselzucken abschütteln läßt, »ihr gefallen solche Sachen.«
»Klar doch«, sagt Simon, bewußt als Gegensatz zu einem schlichten »ja«. Wenn er so weitermacht, schlage ich ihm vor, er soll sich zu Tanya und Maurice setzen. »Wirklich, auf so was steht sie.«
Die beiden haben natürlich recht: Meine Großmutter liebt solche Sachen. Trotzdem bin ich mißtrauisch gegen Bens Geschenk. Wenn ich ihn so angucke, habe ich das Gefühl, daß es sozusagen eine Tarnung ist. Er hat die Gelegenheit als Vorwand und Mutti als Alibi benutzt.
»Hast du es gelesen?« frage ich Alice. Sie schüttelt den Kopf, aber, anders als ich erwartet hätte, lächelt sie nicht als Signal, daß der Witz angekommen ist. Statt dessen guckt sie irgendwie ver- „ wirrt, und ein Blick wechselt zwischen ihr und Ben wie ich noch nie einen zwischen den beiden gesehen habe. Nun, ich habe solche Blicke schon gesehen — für die Hälfte davon war ich selbst die Ursache -, aber nicht zwischen Ben und Alice: Es ist der zermürbte Blick eines Paars, das nach einer Auseinandersetzung plötzlich wieder mit dem Streitthema konfrontiert wird, weil es zufällig von einer dritten Partei angesprochen wird.
Wie um zu beweisen, was für eine auf den Kopf gestellte Welt dies ist, wird die aufkommende Beklommenheit ausgerechnet durch eine Bemerkung meiner Mutter verscheucht.
»Ach! Ist es nicht schön, daß endlich mal wieder die ganze Familie vereint ist! Ich glaube, ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann wir zum letzten Mal alle bei einem, wie ich immer sage, >familiären Anlaß< zusammengesessen haben.«
»Ja!« sagt Simon, und setzt sich, für meine Mutter, den Erwachsenenhut auf. »Und dieser fantastische Kuchen! Wo hast du den
nur her?«
»Oh. Von Marks und Spencers.«
»Nein!« sagt Simon und reißt die Augen auf.
»Ach was, natürlich nicht! Hahahaha!«
»Hahahaha!« macht Simon.
Mir kribbelt das Handgelenk nach einer Rasierklinge.
»Ich hab bloß einen Witz gemacht«, fährt meine Mutter fort. »Den Tortenboden habe ich selbst gebacken, und die Verzierungen
- du weißt schon, die Monumente und so weiter -, die stammen von einer Frau in Polen. Ich habe sie eigens einfliegen lassen.«
»Wie aufmerksam von dir!«
»Nun...«, sagt meine Mutter und blickt zu einem imaginären Himmel auf, »...ich finde immer, wenn jemand vierundachtzig wird, dann verdient er wohl ein bißchen Extraaufmerksamkeit. Meinst du nicht?«
Sie lächelt bedeutungsvoll. Mir ist schon oft der Gedanke gekommen, daß sich meine Mutter, wie viele Frauen ihrer Generation, entsprechend folgender mathematischer Gleichung verhält: eine himmelschreiend banale Feststellung + bedeutungsvolles Lächeln = eine unglaublich scharfsinnige Bemerkung.
»Tee, Irene?« fragt Alice und hält eine lindgrüne Heim-Teekanne in die Luft.
»Was für eine gute Idee!«
»Gibt es auch Kaffee?« frage ich.
»Das glaube ich nicht.«
»Gut, dann eben einen Tee.«
»Na, Alice«, sagt meine Mutter und fällt in einen »Wir-Frauen-unter-uns«-Ton, »was halten wir denn von Gabriel und Tina?«
»Dina«, sagt Alice, während sie einschenkt.
»Dina!« ruft meine Mutter und wedelt Alice mit der Hand eine Entschuldigung zu.
Alice sieht mich an, und schon wieder steht ihr dieses gelassene Lächeln im Gesicht. Obwohl die Taktlosigkeit meiner Mutter
symptomatisch für die schreckliche Unart von Eltern ist, die erotischen Abenteuer ihrer Kinder, gleich in welchem Alter diese sind, grundsätzlich nie ernst zu nehmen, finde ich es doch großartig, wie sie mit dem Dina-Thema alle möglichen neuen Kommunikationswege zwischen mir und Alice eröffnet hat. Endlich haben wir einen geheimen Treffpunkt.
»Ich meine — sieht sie dir ähnlich?« fragt meine
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