Ab ins Bett!
aufkeimende, durch Dinas Worte ausgelöste Selbsterkenntnis, »...nein... na ja, ein bißchen vielleicht schon. Aber es ist keine dämliche Modern Review- Ich stehe auf Arnie<-anticineastische Einstellung.«
»Speed!« schreit eine blonde Frau vor der Regalwand uns gegenüber. Sie dreht sich um. »Du weißt schon... der mit diesem Paki!!«
»Er ist kein Paki!!« schreit ihre ebenso blonde Freundin zurück und unterbricht ihr Geplauder mit dem Asiaten, der hinter dem Tresen schlafwandlerisch Kassetten in Hüllen steckt. »Er ist Hawaiianer!«
»Was ist es denn dann?« fragt Dina.
»Na ja... als ich achtzehn war, sah ich mir nichts anderes als Kunstfilme an«, sage ich. »Du weißt schon, Godards Passion. Die Ehe der Maria Braun. Der Kontrakt des Zeichners. Ich glaube, Der Kontrakt des Zeichners war damals mein Lieblingsfilm.«
»Und dann?«
»Dann sah ich E. T.«
»E. T.?«
»Ja genau.«
»Wie kam denn das, wenn du dir immer bloß Kunstfilme angeguckt hast.«
»Weil ich mich mal kaputtlachen wollte. Auf eine abgehobene, bohèmistische Art dachte ich, es könnte sehr lustig sein.«
»Und...?« sagt Dina.
»Ich hab noch nie in meinem Leben so viele verdammte Tränen vergossen.«
Das stimmt: Zehn Minuten vor Schluß von E. T. war mein Gesicht nicht etwa tränenbenetzt, es war überschwemmt - von heißen, heißen Tränen, die göttliche emotionale Manipulation mir abgerungen hatte. Steven Spielberg hatte einen Damm in meinem Herzen gebrochen.
»Und deshalb«, sage ich und nehme Ghost wieder in die Hand, »will ich inzwischen im Grunde nur noch eins von einem Film: daß er mich zum Weinen bringt.«
»Aber das ist doch reine Manipulation.«
»Ich weiß.«
»Und was soll daran gut sein?«
»Es ist wundervoll. Danach fühle ich mich immer viel besser. Hör mal, wenn wir uns nicht emotional manipulieren lassen wollen, dann hätten wir auch zu Hause bleiben und uns Countdown angucken können.«
Sie hat recht. Ich habe was gegen Kunstfilme. Weil es in Kunstfilmen um nichts anderes geht, als daß die Zuschauer sich ihrer selbst bewußter werden, im Akte des Zuschauens zu einer neuen Eigenwahrnehmung kommen oder sonstweichen poststrukturalistischen Quatsch; während es beim wirklich großen Kino darum geht, sich zu verlieren, weshalb Filme - von Videos mal abgesehen - ja auch in einer großen, dunklen Arena gezeigt werden, wo die riesige Leinwand Hunderte kleiner Ichs verschluckt. Und das äußerste an Sichselbstverlieren ist Weinen - Sturzbäche heißer, nicht zu bremsender Tränen über gescheiterte Liebe oder wiederhergestelltes Glück oder den Tod einer Filmfigur, Dinge, die absolut nichts mit einem selbst zu tun haben. Und das ist etwas völlig anderes, als über eigenes Mißgeschick zu weinen oder über Leute, die in den Nachrichten verhungern - in solchen Tränen kann man sich nicht verlieren, weil man, auf die eine oder andere Art, immer verantwortlich ist. Über Filme zu weinen ist eine gigantische, verschwenderische Selbstaufgabe. Manchmal fühle ich es regelrecht, wie mir mein Selbst kübelweise aus den Augen fließt.
Die Jugendlichen haben sich auf Vorstadt-Sexsklaven geeinigt. Ihr Gepruste unterdrückend tragen sie die Kassette zur Kasse, ungefähr so wie Eingeborene es mit einem gefangenen weißen Forscher tun würden. Ich könnte sie aufklären: Es ist ein dürftiger 1970er Laienstreifen über Ehefrauen-Tausch in einem viel zuviel versprechenden Cover, aber ich lasse es. Sollen sie die lange Reise zur Pornographie-Konsumentenweisheit lieber allein machen.
»Und welche Filme haben dich noch zum Weinen gebracht?« sagt Dina. »Außer Ghost und E. T?«
Ich sehe mich in den Regalen nach Erinnerungshilfen um, entdecke aber nur Reihen um Reihen von Filmen, die in Videoläden immer so deprimierend vorrätig sind: Jumping Jack Flash; Der Frühstücksclub; Der Mann ihrer Träume; Heute ist ein schöner Tag zum Sterben; Die Leidenschaft brennt tief; Guck mal, wer da spricht; 1,2,3; In der Gewalt des Jenseits; Warum läßt Mama das Morden nicht?
Als ich meinen Blick durch den Laden schweifen lasse, sehe ich Schizo-Barrry draußen vor dem Schaufenster vorbeiwanken, den Fuß in eine Klopapierrolle gesteckt, die sich hinter ihm herschlängelt wie bei diesen russischen Bodenturnerinnen das wehende Band. Er bleibt stehen und stiert in den Laden, aber ich glaube nicht mich an - nein, ich habe nicht das Gefühl, als durchzucke es ihn, weil er plötzlich jemanden entdeckt hat, mit dem er mal im Bett war: er
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