Ab jetzt ist Ruhe
und irgendwann erzählte ich ihm von der Sache mit meinem ältesten Bruder, den die schlechte Laune seit Monaten nicht verlassen zu haben schien.
»Hör bloß auf«, stöhnte mein jüngster Bruder und winkte ab. »Der trauert der DDR hinterher, und mit der Frau, die er bei dir kennengelernt hat, ist es auch vorbei. Sie hat jetzt ein Kind, weißt du das?«
»Ja, ich weiß.«
»Wenn ich groß bin, kriege ich auch ein Kind«, sagte mein Bruder.
»Ich auch«, sagte ich.
»Meins kriegt Segelohren.«
»Und meins Plattfüße.«
Wir tranken unseren Kaffee, blödelten uns schräg durch den Nachmittag, und irgendwann ging ich nach Hause. Der Abend war mild und roch wie jeder andere Sommerabend auch – trotzdem war es immer noch seltsam, wieder zurück zu sein. Während ich in New York war, hatte sich hier alles verändert. Leute, von denen ich wusste, dass sie vorher keiner geregelten Arbeit nachgegangen waren, hatten inzwischen Kneipen eröffnet, verkauften Trödel in leerstehenden Kellergeschäften, und aus den Fenstern der Häuser, die sie besetzt hatten, hingen Transparente und schwarzrote Fahnen. Doch während in den Seitenstraßen noch fröhliche Anarchie herrschte, lag die Hauptstraße wie ein Niemandsland zwischen Gegenwart und Zukunft. Alle hundert Meter standen provisorische Container, in denen Bankangestellte den Leuten Kredite aufschwatzten, vor dem S-Bahnhof verkauften Straßenhändler hässliche Klamotten in unerträglichen Farben, und im Schutz der Hauseingänge lauerten vietnamesische Zigarettenhändler auf potentielle Kundschaft. Dieses seltsame Treiben sah ich jedoch nur selten, da ich die meiste Zeit beim Radio verbrachte. Wir arbeiteten und sendeten immer noch wie besessen und schauten dabei nicht auf die Uhr. Zwar wussten wir, dass auch unsere Anarchie irgendwann der neuen Ordnung würde weichen müssen, doch noch war es uns egal. Das Studio war unser besetztes Haus, und wir wohnten gern darin. Als es eines Tages hieß, der Sender würde abgeschaltet, geschah etwas, womit keiner von uns gerechnet hatte. Die Leute, die uns hörten, gingen auf die Straße, versammelten sich zu spontanen Demonstrationen und Mahnwachen und legten teilweise sogar den Verkehr lahm.
»Warum tut ihr das?«, fragten die Reporter. »Es ist doch nur ein Radiosender.«
»Es ist unser Radiosender. Er ist gut.«
»Warum ist er gut?«
»Er dudelt nicht und nimmt uns ernst.«
»Und wenn er weg ist?«
»Das werden wir verhindern.«
Und dann machten sie weiter. Sie ketteten sich ans Brandenburger Tor, besetzten den Fernsehturm und schlugen ihre Lager in den Fluren der Regierungsgebäude auf. Sie verteilten Flugblätter und besprühten Häuserwände. Sie klebten unser Logo an Telefonzellen und schrieben mit schwarzer Farbe »Ihr seid das Volk« drunter. Sie konnten zwar nicht verhindern, dass der Sender irgendwann verschwand, doch sie sorgten dafür, dass er sein Land um drei Jahre überlebte. Und bevor wieder alles anders wurde, traf ich Kurt.
Ich hatte Kurt schon einmal auf der Bühne gesehen. Damals stand er vor einer schrägen Blaskapelle und kommentierte die Songs, die sie spielte. Es waren Stücke von Weill oder Eisler oder Jimi Hendrix, und er benutzte sie, um die Welt zu erklären. Er tat dies mit wilden Gesten und mit Sätzen, in denen man sich verlaufen konnte. Er verlief sich nie. Kurt war hochintelligent und hatte sogar einen Doktortitel in Philosophie, doch er schien sich selbst nicht sonderlich ernst zu nehmen. Er war ein witziger Klugscheißer und polterte so schnell durch Raum und Zeit, dass einem Hören und Sehen vergehen konnte. Trotzdem hatte man hinterher das Gefühl, etwas klüger geworden zu sein.
Kurt war jetzt also auch beim Radio und moderierte eine Talksendung, in der er mit Hörern über Themen redete, über die sonst keiner sprach. Sie diskutierten, ob Choleriker wütend machten, wohin Lasterfahrer ihre Kaugummis klebten und ob Kaufhausdetektive auch Naturfreunde seien. Doch so banal die Themen auch schienen, es steckte immer eine tiefe aufklärerische Absicht dahinter. Seine Sendung war binnen kürzester Zeit Kult, und die Leute rissen sich darum, mit ihm zu sprechen, auch wenn er sie zur Schnecke machte, weil sie nur Schwachsinn von sich gaben. Er hielt ihnen den Spiegel vor, ohne dass sie es merkten. Er war grandios.
Neben diesem Kurt gab es allerdings noch einen anderen, und der trat erst auf, wenn der Vorhang gefallen oder das Rotlicht erloschen war. Als habe jemand den Schalter umgelegt,
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