Ab jetzt ist Ruhe

mochte Silvester nicht, weil es sich so wichtig nahm und weil ich es nicht brauchte, um etwas zu ändern. Außerdem war mein Leben in Ordnung, wie es gerade war. Ich hatte eine schöne und kluge Tochter von sieben Jahren, ich liebte meine Arbeit beim Radio, und auch wenn mir gerade die Liebe fehlte, war ich nicht einsam. Normalerweise also war der erste Tag des Jahres ein Tag wie jeder andere. Doch heute war es anders, denn ich hatte etwas vor.
    Der Morgen war kalt und eisgrau, die Bürgersteige sahen aus wie nach einem bunten Krieg, und durch die Straßen taumelten noch ein paar Überlebende. Ich stieg in mein Auto und fuhr zum S-Bahnhof Greifswalder Straße, vor dessen Eingang eine junge Vietnamesin in einem anachronistischen Blumenmeer stand. Es war der erste Tag des neuen Geldes, doch ich hatte noch keins. Ich fragte sie, ob sie auch D-Mark nehme für ihre Blumen. Sie nickte. Ich suchte fünf Rosen aus, bezahlte, und als ich wieder im Auto saß, zündete ich mir eine Zigarette an und dachte nach. Fünf Leute auf drei Friedhöfen in drei Stadtbezirken – es gab keine Logik, nach der ich die Reihenfolge festlegen konnte, in der ich sie besuchte. Also entschied ich mich für die effektivste Route und fuhr zuerst zu meinem ältesten Bruder, der auf dem Friedhof der großen Künstler und klugen Köpfe lag. Statt eines Steins stand eine Holzskulptur auf seinem Grab, sie erinnerte an eine afrikanische Plastik, die mein Bruder besessen hatte. Ein Bildhauer hatte die Skulptur gemacht, doch ich fand, dass sie nicht zu meinem Bruder passte. Sie gehört in ein Museum und du nicht, dachte ich und legte eine der Blumen auf sein Grab.
    Ich stieg wieder in mein Auto und fuhr zu meinen beiden jüngeren Brüdern, die zusammen lagen. Als ich vor dem grobbehauenen Stein mit ihren Namen stand, wartete ich. Ich wusste nicht, worauf, doch ich wusste, dass es richtig war zu warten. Ich dachte an Filmszenen, in denen Leute an Gräbern standen und mit ihren Toten redeten. Ich fand das immer albern und kitschig, und es gab auch nichts, was ich mit meinen Brüdern jetzt dringend hätte besprechen müssen. Irgendwo schrie eine Krähe. Mein jüngster Bruder hatte in seinen Geschichten oft mit Vögeln gesprochen, eine Krähe war auch dabei. Doch ich war nicht abergläubisch genug, um den krächzenden Vogel für ein Zeichen zu halten. Ich blieb noch ein paar Minuten stehen, legte zwei Blumen auf das Grab meiner Brüder und ging.
    Schließlich fuhr ich zum Friedhof, auf dem meine Eltern lagen, und als ich an ihrem Grab stand, wartete ich wieder auf einen Gedanken. Er kam. Abwesend, dachte ich. Jetzt seid ihr alle abwesend. Das ist traurig, doch es hat auch was Gutes: Ihr könnt mir nicht mehr verlorengehen, weil ich euch schon verloren habe. Ich legte die letzten beiden Rosen auf das Grab meiner Eltern. Ich habe euch lieb, sagte ich. Und ab jetzt ist Ruhe.

Dirk, Friedrich, Germar, Haik, Knut, Nadja
und Roger – danke für Eure Unterstützung
und Eure Freundschaft.

Über Marion Brasch
    Marion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR. 1987 begann sie als Musikredakteurin beim Jugendsender DT64 und ist heute als freie Rundfunkjournalistin und –moderatorin bei radioeins (RBB) tätig. ›Ab jetzt ist Ruhe‹ ist ihr erster Roman.
     
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Impressum
    Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
    Coverabbildung: Kim Reuter
     
    © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
     
    Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
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    ISBN 978-3-10-401748-8



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