Ab jetzt ist Ruhe
wanderte durch seine Gegend und fotografierte sie. Er redete mit dem Bäcker, dem Säufer und der Zeitungsfrau, und wenn er zurückkam, dachte er sich Geschichten über sie aus. Dann weckte er die blonde Malerin, mit der er jetzt lebte, und zeigte ihr das Haus, in dem wir mal eine Familie waren. Er fuhr nach Portugal und wusste plötzlich, dass er dort in einem Leuchtturm leben wollte. Er malte Bilder in tiefem Blau und formte aus Ton die Helden des Buches, das er schrieb. Es handelte von einem sizilianischen Kirchturmglöckner, den es mit einem kleinen, immer angesoffenen und rückwärtig alternden Rotkehlchen nach Berlin verschlägt. Die beiden streifen durch die Stadt und erleben die Wirklichkeit dabei realer als ihre Bewohner. Es war ein warmes, lustiges und kluges Buch, doch es verkaufte sich nicht. »Egal«, sagte mein jüngster Bruder. »Dann mach ich eben was anderes.«
Er setzte sich eine Woche lang hinter das Schaufenster einer Buchhandlung und schrieb dort vor aller Augen. Er wollte gesehen werden und übte sich doch schon in der Kunst des Verschwindens.
Auch mein ältester Bruder kannte sich mit dieser Kunst aus, und nachdem das kleine Land im großen verschwunden war, verschwand er in dem Haus, das er sein Wörtergefängnis nannte. Dort schrieb auch er ein Buch und erzählte von einem Mann, der zwei Schwestern auf ihren Wunsch erschießt. Als er sich danach selbst töten will, fehlt ihm der Mut. Der Mann wird vor Gericht gestellt, und weil er sich selbst kaum noch Gewicht beimisst, erhängt er sich später in seiner Zelle an einem Bindfaden. Bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung stellt ein Arzt fest, dass sich die Fontanelle des Mannes nie geschlossen hatte.
Sieben Jahre schrieb mein ältester Bruder an dieser Geschichte und zerrieb sich an ihr. Immer wieder begann er von vorn, verschachtelte die Handlung, fügte Figuren hinzu und erklärte sie zu abwesenden Personen, setzte sich selbst hinein und befreite sich wieder daraus. Dazwischen trank er, um nüchtern zu werden, und kokste sich in die Trunkenheit. Nach sieben Jahren türmten sich tausende Seiten auf dem Schreibtisch, der sich bog unter der Last. Mein Bruder bog sich auch, dann brach er zusammen. »Es ist das Herz«, sagten die Ärzte. »Wenn er nicht aufhört zu saufen und zu koksen, wird er endgültig verschwinden.« Sie operierten ihn und stachen versehentlich ein Loch in sein Herz. »Jetzt habe ich ein Loch im Herzen«, sagte mein ältester Bruder und schrieb ein Gedicht darüber. Dann legte er den Stift weg und umfing sich mit seinen Armen, als wolle er verhindern, dass er auseinanderfällt.
Aus den tausenden Seiten auf seinem Schreibtisch erschien schließlich ein kleines, dünnes Buch. Mein Bruder nahm es mit auf die Bühne des Theaters, neben dem er wohnte, und setzte sich neben die Schauspielerin mit den schönen tiefen Augen. Die beiden hatten sich vor langer Zeit getrennt und doch nie losgelassen. Sie lasen zusammen aus seinem Buch, und es ging ihm gut.
Die Bücher meiner Brüder erschienen im selben Jahr, und zwei Jahre später atmeten beide zum letzten Mal aus. Das neue Jahrhundert war gerade ein Jahr alt, als mein jüngster Bruder nicht mehr auf die Ärzte hören wollte. »Vernunft ist auf Dauer für den Arsch«, sagte er und versenkte sie auf dem Boden der Flasche, die er trank. Er ging im frühen Sommer. Ich brachte ihn zum Friedhof, auf dem auch mein mittlerer Bruder lag, und ließ seinen Namen in dessen Stein meißeln.
»Dieser Idiot«, sagte mein ältester Bruder, als er leichenblass bei der Beerdigung erschien. »Er hat mir doch sonst immer alles nachgemacht, warum macht er mir jetzt das Sterben vor?«
Sein Herz, das schon so krank war, wurde immer schwerer und konnte ihn bald nicht mehr tragen. Er ging im späten Herbst.
»Ihr Idioten«, sagte ich. »Jetzt bin ich ganz allein.«
Dann rief ich meine Freunde an, und sie kamen. Wir tranken und kifften und spielten »Mensch ärgere dich nicht«, und ich lachte und weinte mich in eine weiche Abwesenheit. Nebenan schlief meine Tochter, und als ich am nächsten Morgen neben ihr aufwachte, hatte ich keine Kopfschmerzen. Für einen Augenblick dachte ich, ich müsste mich dafür schämen. Doch ich schämte mich nicht.
Epilog
Es war der erste Tag des Jahres, als ich von zu Hause losging. Normalerweise pflegte ich an Tagen wie diesem auszuschlafen. Normalerweise steckte ich mir dafür Stöpsel in die Ohren, damit ich das Silvestergeballer nicht hören musste. Ich
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